Schattenfall
zehn Meter weg stand und ihn beobachtete…
»Mörder«, sagte Yursalka wie betäubt. »Mörder!«
Er hörte jemanden durch den Matsch waten.
»Dein Junge ist mir über den Weg gelaufen«, sagte die verhasste Stimme. »Da hab ich ihn dir zurückgebracht.«
Etwas – ein Kohlkopf? – traf ihn an der Brust, und ihn überkam, was ihm eigentlich fremd war: Panik.
»Du… du lebst?«, stammelte er. »Da… da bin ich aber erleichtert. Wir alle… werden uns riesig freuen!«
Wieder ein Blitz, und Yursalka sah ihn wie ein Gespenst aufragen – wild und elementar wie Donner und Regen.
»Manches, was kaputtgegangen ist«, tönte die Stimme aus der Dunkelheit, »lässt sich nicht wieder flicken.«
Mit einem Schrei stürzte Yursalka vorwärts und schwang sein Breitschwert in hohem Bogen durch die Luft. Doch eiserne Glieder packten ihn im Dunkeln. Etwas knallte ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Sein Schwert fiel ihm aus den tauben Fingern. Eine Hand würgte ihn, und er prügelte auf einen Unterarm, der aus Stein zu sein schien. Er merkte, wie seine Zehen Furchen in den Schlamm zogen, rang verzweifelt nach Luft, spürte etwas Scharfes im Bogen über seinen Unterleib fahren und dann einen brühwarmen Schwall auf den Oberschenkeln und bekam das unheimliche Gefühl, ausgehöhlt worden zu sein.
Er glitt zu Boden und klatschte zusammengekrümmt zu seinen Eingeweiden in den Matsch.
Ich sterbe.
Wieder zuckte weißes Licht über den Himmel, und Yursalka sah seinen Gegner mit verstörten Augen und einem ausgehungerten Grinsen über sich kauern. Dann war es wieder Nacht.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte es aus dem Dunkel.
»Cnai… Cnaiür«, keuchte er. »Der brutalste… Schlächter weit und breit…«
Yursalka bekam eine Ohrfeige mit der flachen Hand, als wäre er ein Sklave.
»Nein. Ich bin dein Ende. Vor deinen Augen werde ich deine Nachkommen niedermetzeln. Ich werde dich vierteilen und an die Hunde verfüttern. Deine Knochen werde ich zu Staub zermahlen und in den Wind streuen. Jeden, der deinen Namen oder den deiner Vorfahren ausspricht, werde ich töten, bis ›Yursalka‹ bedeutungslos wird wie das Lallen eines Säuglings. Ich werde dich auslöschen und jede Spur von dir eliminieren! Deine Lebenslinie hat zu mir geführt, und bei mir wird sie abbrechen. Ich bin dein Ende, deine totale Vernichtung!«
Dann tauchten Fackeln auf, und Leute kamen durch die Dunkelheit. Sie hatten seine Schreie gehört! Er sah nackte und beschuhte Füße durch den Matsch stapfen, hörte Männer fluchen und ächzen. Er sah seinen jüngeren Bruder mit nackter Brust in den Schlamm stürzen und seinen letzten noch lebenden Cousin auf die Knie stolpern und wie einen Betrunkenen in eine Pfütze fallen.
»Ich bin euer Häuptling!«, brüllte Cnaiür. »Fordert mich zum Zweikampf oder seht, wie ich Gerechtigkeit übe! So oder so – Vergeltung muss sein!«
Mit eigenartig taubem Gefühl wandte Yursalka den Kopf im Matsch und sah, dass sich immer mehr Utemot um ihn und Cnaiür sammelten. Fackeln flackerten zischend im Regen. Ihr orangenes Licht wurde ab und an von weißen Blitzen überlagert. Er sah eine seiner Frauen – nur mit dem Bärenfell angetan, das sein Vater ihr geschenkt hatte – in blankem Entsetzen auf ihn herunterblicken. Dann stolperte sie mit entgeisterter Miene zu ihm. Cnaiür hieb so wuchtig zu, als sei sie ein Mann. Sie stürzte, verlor dabei ihren Mantel und sackte reglos und nackt zu Füßen ihres Häuptlings nieder. Wie kalt sie aussah!
»Dieser Mann«, donnerte Cnaiür, »hat seine Stammesbrüder auf dem Schlachtfeld verraten!«
»Um uns zu befreien«, stieß Yursalka hervor. »Um die Utemot von deinem Joch und deiner Verworfenheit zu befreien!«
»Ihr habt sein Geständnis gehört! Damit hat er sein Leben und das seiner Sippe verwirkt!«
»Nein…«, begann Yursalka hustend, doch die Taubheit war ihm schon in die Glieder gekrochen und ließ nun auch seine Stimme versagen. Wo blieb bei alldem die Gerechtigkeit? Ja, er hatte seinen Häuptling verraten, aber er hatte es um der Ehre willen getan. Cnaiür hatte damals seinen Häuptling – den eigenen Vater! – um der Liebe willen verraten, der Liebe zu einem Mann noch dazu! Zu einem Ausländer, der über magische Worte gebot, die tödliche Wirkung hatten! Wo blieb da die Gerechtigkeit?
Cnaiür hob die Arme, als wollte er den Gewitterhimmel packen. »Ich bin Cnaiür von Skiötha, der Pferden den Willen und Menschen das Leben nimmt, ich bin der Häuptling der Utemot,
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