Schattenfall
und ich bin von den Toten auferstanden! Wer wagt es, mein Urteil in Zweifel zu ziehen?«
Der Regen rauschte weiter zur Erde. Niemand riskierte es, sich mit dem Verrückten auf eine Diskussion einzulassen. Alle sahen ihn nur ehrfürchtig oder tief erschrocken an. Dann trat eine Frau vor, warf sich Cnaiür an die Brust, weinte hemmungslos und wimmerte etwas Unverständliches. Cnaiür, der sie vor Jahren zur Frau genommen hatte, umarmte sie kurz und fest und drückte sie dann ein kleines Stück von sich fort.
»Ich bin’s, Anissi«, sagte er so zärtlich wie verschämt. »Und ich bin wohlauf.«
Dann wandte er sich Yursalka zu, der im Fackelschein wie ein Dämon wirkte, im Blitzlicht aber wie der Leibhaftige.
Yursalkas Frauen und Kinder hatten sich wimmernd um ihren Mann und Vater versammelt. Der spürte weiche Schenkel unter seinem Kopf und das unruhige Hin und Her warmer Handflächen auf dem Gesicht und auf der Brust. Doch er konnte nur die ausgezehrte Gestalt seines Häuptlings betrachten und sah, wie er seine jüngste Tochter bei den Haaren packte und ihrem Schreien mit der Klinge ein Ende machte. Einen furchtbaren Moment lang blieb sie an sein Schwert geheftet, und er schüttelte sie wie eine aufgespießte Puppe. Yursalkas Frauen kreischten auf und duckten sich. Schon hatte Cnaiür sich über ihnen aufgebaut und ließ sein Breitschwert wieder und wieder niederfahren, bis sie am Boden lagen und die zitternden Hände sterbend in den Matsch gruben. Nur Omiri, die gelähmte Tochter des Xunnurit, die Yursalka im vorletzten Frühjahr geheiratet hatte, krallte sich noch heulend an ihren Mann. Cnaiür packte sie mit der freien Hand und hob sie am Nacken hoch. Ihr Mund war wie bei einem Fisch zu einem stummen Schrei geformt.
»Ist das Xunnurits behinderte Tochter?«, knurrte er.
»Ja«, keuchte Yursalka.
Cnaiür warf sie wie einen Putzlumpen in den Matsch. »Die soll am Leben bleiben und unseren Stamm blühen und gedeihen sehen. So wird sie die Sünden ihres Vaters büßen.«
Inmitten seiner toten oder sterbenden Familienmitglieder musste Yursalka unter furchtbaren Schmerzen erleben, dass Cnaiür sich sein Gedärm wie ein Seil um die vernarbten Arme schlang. Sein letzter Blick galt den gefühllosen Augen seiner Stammesbrüder, die – wie er wusste – nicht eingreifen würden.
Und zwar nicht, weil sie ihren wahnsinnigen Häuptling fürchteten, sondern weil der nur auf traditionelle Weise Rache nahm.
MOMEMN, SPÄTHERBST 4111
Vor anderthalb Jahren hatte Maithanet den Heiligen Krieg erklärt, und seither hatten sich unzählige tausend Menschen vor den Mauern von Momemn gesammelt. Unter den höheren Chargen der Tausend Tempel gab es Gerüchte, Maithanet sei darüber bestürzt gewesen. Eine derart überwältigende Reaktion auf seinen Kriegsaufruf habe er nicht erwartet, hieß es. Vor allem habe er nicht damit gerechnet, dass so viele Männer und Frauen aus der Unterschicht die Sache des Stoßzahns verfechten wollten. Immer wieder gab es Berichte über Freie, die ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft hatten, um die Schiffsreise nach Momemn bezahlen zu können. Ein verwitweter Filzmacher aus der Stadt Meigeiri, so hieß es, habe seine beiden Söhne lieber ertränkt, statt sie an Sklavenhändler zu verkaufen. Dem Konsistorium seiner Stadt soll er bei der Untersuchung des Falls versichert haben, er habe die Kinder nur nach Shimeh »vorausgeschickt«.
Ähnliche Geschichten trübten fast jeden Bericht nach Sumna, bis derartige Vorkommnisse die höheren Tempelpriester kaum noch beunruhigten, sondern nur mehr anwiderten. Was sie dagegen irritierte, waren die zunächst seltenen Berichte über Gräueltaten, die Männer des Stoßzahns begangen oder erlitten hatten. Vor der Küste von Conriya ertranken in einem eigentlich harmlosen Sturm mehr als neunhundert Pilger aus der Unterschicht, denen man eine Reise auf nicht seetüchtigen Schiffen angedreht hatte. Im Norden zerstörte ein Söldnertrupp aus Galeoth, der unter der Fahne des Stoßzahns marschierte, auf seinem Weg nach Süden nicht weniger als siebzehn Dörfer. Die Marodeure hinterließen keine Zeugen und wurden erst entdeckt, als sie versuchten, die Habseligkeiten des Arnyalsa, eines berühmten Missionspriesters, in Sumna auf dem Markt zu verkaufen. Auf Maithanets Anweisung umzingelten Tempelritter ihr Lager und töteten all diese Männer.
Dann gab es die Geschichte von Nrezza Barisullas, dem König von Ciron und vielleicht reichsten Mann im Gebiet
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