Schattenfall
den Inrithi den Leib auf und erhängte sie an Bäumen. Für die Gläubigen waren die Unaras-Berge das Ende der Welt.
Der Regen hörte auf. Sonnenstrahlen drangen durch die Wolken. Ein religiöses Lied auf den Lippen und Freudentränen in den Augen, machten sich die ersten Männer des Stoßzahns in die Berge auf. Sie meinten, die Heilige Stadt Shimeh müsse direkt hinterm Horizont liegen. Immer direkt hinterm Horizont.
Als die Nachricht, der Gemeine Heilige Krieg sei ins Land der Heiden eingedrungen, Sumna erreichte, entließ Maithanet seinen Hofstaat und zog sich in seine Gemächer zurück. Seine Diener wiesen alle Bittsteller ab und teilten ihnen mit, der heilige Tempelvorsteher bete und faste und werde nichts anderes tun, ehe er nicht vom Schicksal der ersten, so eigensinnigen Hälfte seiner Heiligen Krieger erfahren habe.
Skeaös verbeugte sich so tief, wie das Jnan es ihm gebot, und sagte: »Der Kaiser hat mir auf getragen, Euch auf dem Weg zu seinem Geheimen Gemach auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, Herr Oberbefehlshaber. Die Ainoni sind angelangt.«
Conphas sah von dem Brief auf, an dem er geschrieben hatte, und steckte die Feder ins Tintenhorn. »Jetzt schon? Sie wollten doch erst morgen kommen.«
»Ein alter Trick, Mylord. Die Scharlachspitzen greifen ganz gern zu alten Tricks.«
Die Scharlachspitzen. Conphas wäre bei diesem Gedanken beinahe ein Pfiff über die Lippen gekommen. Der mächtigste Orden im Gebiet der Drei Meere war drauf und dran, sich dem Heiligen Krieg anzuschließen… Conphas hatte größere Ungereimtheiten des Lebens immer mit der Wertschätzung des Kenners betrachtet. Absurditäten wie diese waren für ihn echte Leckerbissen.
Am Morgen zuvor waren Hunderte ausländischer Galeeren und Galeonen in der Mündung des Phayus zu sehen gewesen, die nachts dort festgemacht haben mussten. Die Scharlachspitzen, der regierende König mit seinem Gefolge und mehr als ein Dutzend Statthalter mit ihren Vasallen waren seither von Bord gegangen – genau wie Legionen einfacher Fußsoldaten. Ganz Ainon, so schien es, war gekommen, um sich dem Heiligen Krieg anzuschließen.
Xerius war überglücklich. Seit dem Abmarsch des Gemeinen Heiligen Kriegs vor ein paar Wochen waren mehr als zehntausend Thunyeri angelangt, die von Prinz Skaiyelt, dem Sohn des berüchtigten Königs Rauschang, befehligt wurden – und mindestens viermal so viele Tydonni unter Gothyelk, dem kampflustigen Grafen von Agansanor. Leider hatte sich gezeigt, dass beide Männer gegen den Charme des Kaisers gefeit waren – und zwar ganz und gar. Kaum hatte man ihm den Vertrag vorgelegt, hatte Prinz Skaiyelt den Hofstaat des Kaisers mit einem vernichtenden Blick seiner nervösen blauen Augen gemustert und war wortlos aus dem Palast marschiert. Der alte Gothyelk hatte das Pult umgetreten und Xerius entweder einen »kastrierten Heiden« oder eine »verkommene Schwuchtel« genannt (die Übersetzer waren sich nicht einig). Die Überheblichkeit der Barbaren, vor allem der Norsirai, war eben unermesslich.
Doch von den Ainoni erwartete Xerius Besseres. Sie waren schließlich Ketyai – genau wie die Nansur. Und ein altes Kaufmannsvolk – wiederum wie die Nansur. Und sie waren – trotz der archaischen Wertschätzung ihrer Barte – zivilisiert.
Conphas musterte Skeaös. »Meinst du, sie tun das mit Absicht? Um uns auf dem falschen Fuß zu erwischen?« Er wedelte mit dem Pergament, damit es trocken wurde, und gab das Schreiben dann seinem Boten. Es enthielt Anweisungen an Martemus, die Patrouillen südlich von Momemn fortzusetzen.
»Ich an ihrer Stelle würde das tun«, antwortete Skeaös offen. »Wer genug kleine Vorteile hamstert…«
Conphas nickte. Der Oberste Berater hatte auf eine berühmte Stelle aus dem »Seelenhandel« angespielt, der klassischen philosophischen Abhandlung des Ajencis über die Politik. Einen Augenblick wunderte Conphas sich darüber, warum er und Skeaös einander so verachteten. War sein Onkel nicht zugegen, verstanden sie sich auf ganz eigene Art, als könnten sie – wie die ehrgeizigen Söhne eines Vaters, der seine Sprösslinge ständig gegeneinander aufhetzt – ihre Rivalität von Zeit zu Zeit beiseite setzen und ihr gemeinsames Los in schlichten Worten anerkennen.
Der Oberbefehlshaber stand auf und sah zu dem runzligen Mann hinunter. »Geh bitte vor, Väterchen.«
Ohne sich um die feinen Prestigeunterschiede der Verwaltung zu scheren, hatte Conphas mit seinem Kommandostab gleich am ersten
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