Schattenfall
bei zunehmender Dunkelheit zu fürchten begann, er könnte den Weg verfehlen, kehrte er zu seinem Maultier zurück und schlug sein Nachtlager zwischen den Säulen auf.
Im Schlaf träumte er von jenem Tag, da alle Kinder tot zur Welt gekommen waren, von dem Tag also, da die Rathgeber – von den Nichtmenschen und den alten Norsirai in die schwarzen Mauern von Golgotterath zurückgedrängt – die völlige, panische Leere in die Welt brachten: Mog-Pharau, den Nichtgott. Im Schlaf sah Achamian mit Seswathas gequältem Blick eine Herrlichkeit nach der anderen flackernd verlöschen. Und er erwachte, wie er stets erwachte: als Zeuge des Weltendes.
Er wusch sich Haupthaar und Bart in einem nahen Bach, ölte sie ein und kehrte zu seinem bescheidenen Lager zurück. Allmählich begriff er, dass er nicht nur um Inrau trauerte, sondern auch um den Verlust seines alten Selbstwertgefühls. Zahlreiche Nachforschungen hatten ihn kreuz und quer durch die labyrinthischen Behörden der Tausend Tempel geführt, waren aber allesamt im Nichts verlaufen. Die bedrückenden Gespräche mit verschiedenen Mitarbeitern des Tempelvorstehers gingen ihm oft dräuend im Kopf herum, und in diesen Erinnerungen schienen die Priester noch größer und dürrer, als sie es ohnehin waren. Viele dieser Männer waren beunruhigend scharfsinnig gewesen, aber hartnäckig bei der offiziellen Erklärung für Inraus Tod geblieben – bei der Behauptung nämlich, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Er wusste, dass sein Versuch, ihnen die Wahrheit durch Bestechung zu entlocken, eine gewaltige Dummheit gewesen war. Was hatte er sich dabei nur gedacht? Allein die goldenen Kelche, aus denen sie Anpoi tranken, waren vermutlich mehr wert als das, was er an Geld hätte auftreiben können. Im Vergleich zu dem Reichtum der Tausend Tempel war er ein Bettler. Genau wie im Vergleich zu der Macht Maithanets.
Seit er von Inraus Tod erfahren hatte, bewegte Achamian sich wie durch Nebel. Sein inneres Schrumpfen fühlte sich genauso an wie damals als Kind, wenn sein Vater ihn das alte Seil hatte holen lassen, um ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Hol das Seil, hatte er immer geknurrt, und dann hatte das schlimme Ritual begonnen: bebende Lippen; Hände, die zitternd nach dem furchtbaren Stück Hanf griffen…
Sollte Inrau tatsächlich Selbstmord begangen haben, wäre Achamian sein Mörder.
Hol das Seil, Akka. Und zwar sofort!
Er war erleichtert gewesen, als die Mandati ihm aufgetragen hatten, nach Momemn zu reisen und sich dem Heiligen Krieg anzuschließen. Mit dem Verlust Inraus hatten Nautzera und die anderen Mitglieder des Quorums ihre dunklen Hoffnungen aufgegeben, die Tausend Tempel zu infiltrieren. Jetzt sollte er wieder mal die Scharlachspitzen beobachten. So sehr ihn die Ironie dieses Auftrags schmerzte: Er hatte nicht versucht, sich ihm zu widersetzen. Es war Zeit gewesen, weiterzuziehen, denn Sumna bestätigte ihm bloß, was er nicht zu ertragen vermochte. Selbst über Esmenet hatte er sich schon zu ärgern begonnen – über ihre spöttischen Blicke, ihre billigen Kosmetika und… über das endlose Warten, während sie andere Männer befriedigte. So schnell ihre Zunge seinen Körper erregen konnte, so kalt hatte sie in letzter Zeit seinen Geist gelassen. Und doch schmerzte ihn schon der kleinste Gedanke an sie – die Erinnerung an ihre Haut zum Beispiel, die vor lauter Parfüm ganz bitter geschmeckt hatte.
Hexenmeister waren nicht an Frauen gewöhnt, deren Geheimnisse zudem als weniger bedeutend galten und von gelehrten Männern zu verachten waren. Doch das Geheimnis dieser Frau, dieser Hure aus Sumna, weckte in ihm mehr Ehrfurcht als Verachtung. Ehrfurcht und Sehnsucht. Aber warum? Nach Inraus Tod hatte er vor allem Ablenkung gesucht, und Esmenet hatte sich hartnäckig geweigert, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Ganz im Gegenteil: Sie war neugierig auf all seine Erlebnisse vom Tage gewesen, hatte die Bedeutungsmöglichkeit noch der unwichtigsten Kleinigkeit, die er in Erfahrung gebracht hatte, debattiert – übrigens eher mit sich als mit ihm – und so banale wie abwegige Verschwörungstheorien aus dem Hut gezaubert.
Eines Abends hatte er ihr genau das an den Kopf geworfen, damit sie wenigstens für kurze Zeit Ruhe gab. Tatsächlich hatte sie ein Weilchen geschwiegen, dann aber mit einem Überdruss, der seinen Widerwillen bei weitem übertraf, zu sprechen begonnen und dabei einen Ton angeschlagen, der zeigen sollte, wie tief seine Kleinlichkeit sie
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