Schattenfall
das geschieht, Esmi, dann stell auf keinen Fall Fragen. Du darfst nichts über diese Männer wissen wollen, verstanden? Ignoranz ist deine Lebensversicherung… Sei ihnen zu Willen, verhalte dich als Hure und treib den Preis eiskalt nach oben – denn vor allem musst du mich verkaufen, Esmi. Du musst ihnen alles sagen, was du weißt. Und erzähl ihnen unbedingt die Wahrheit, denn die wissen sie wahrscheinlich ohnehin schon zum Großteil. Wenn du das tust, wirst du überleben.«
»Und warum?«
»Weil Kundschafter nichts so sehr schätzen wie schwache, käufliche Seelen, Esmi. Sie werden dich schonen, weil du ihnen vielleicht noch mal nützlich sein kannst. Versteck deine Stärke, und du wirst überleben.«
»Und was wird aus dir, Akka? Was passiert, wenn sie etwas erfahren, womit sie dich verletzen können?«
»Ich bin doch ein Ordensmann, Esmi«, hatte er da nur geantwortet. »Ein Hexenmeister der Mandati.«
Schließlich sah sie im Gewoge der Passanten ein kleines Mädchen barfuß im staubigen Sonnenlicht stehen. Die soll es sein. Mit großen braunen Augen sah das Kind Esmenet auf sich zukommen, war zu misstrauisch, ihr Lächeln zu erwidern, und drückte einen Stock an die abgetragene Hemdbrust.
Ich habe überlebt, Akka, und doch nicht überlebt.
Esmenet bückte sich zu dem Mädchen runter und brachte es mit der Goldmünze zum Staunen.
»Nimm«, sagte sie und drückte ihr das Geld in die kleine Hand.
Wie sehr sie meiner Tochter ähnelt!
Auf einem Maultier ritt Achamian ins Tal von Sudica hinab. Er hatte zunächst geglaubt, er habe diese Route von Sumna nach Momemn willkürlich gewählt und hätte auch andere Straßen nehmen können, wenn sie nur die landwirtschaftlich stark genutzten Gebiete entlang der Küste vermieden. Seit langem schon war das Tal fast unbesiedelt. Nur ein paar Schäfer lebten hier mit ihren Herden. Und es gab viele Ruinen.
Der Tag war klar und überraschend warm. Nansur war keine trockene Gegend, erinnerte Achamian aber oft genug an eine Halbwüste. Die Bewohner des Kaiserreichs lebten dicht an dicht an den Flüssen und an der Küste und ließen große Teile des Landes nur deshalb unbewohnt und damit unwirtlich, weil sie gegen Angriffe der Scylvendi schlecht zu verteidigen waren.
Das Tal von Sudica war so eine Gegend. Achamian hatte gelesen, in den Tagen von Kyraneas sei es eine der wichtigsten Provinzen gewesen, Heimat großer Heerführer und Keimzelle bedeutender Dynastien. Inzwischen gab es hier nur noch Schafe und halb schon unter Gestrüpp verschwundene Ruinen. Egal, in welchem Land Achamian sich aufhielt – es schien, als zögen ihn Gegenden wie diese geradezu magisch an, Regionen, die im Schlummer lagen und von alten Zeiten träumten. Sehr viele Mandati teilten diese Vorliebe, diese tiefe Leidenschaft für die steinernen oder schriftlichen Zeugnisse einer vergangenen Welt. Ihre Begeisterung war so groß, dass sie oft auch ohne Grund durch Tempelruinen streiften oder die Bibliothek eines Gelehrten aufsuchten. Ihre Besessenheit hatte sie zu den Chronisten des Gebiets der Drei Meere werden lassen. Zwischen halb verfallenen Mauern und umgestürzten Säulen umherzugehen oder in einem alten Vertrag zu lesen, war für sie wie eine Reise, die sich harmonisch mit ihren anderen Erinnerungen verband und sie von ihrer Doppelexistenz erlöste.
Das bekannteste Wahrzeichen des Tals war der in Trümmern liegende Festungstempel von Batathent. Achamian musste manchen Hang überwinden und sich durch manches Gestrüpp schlagen, ehe er hinauf in den Schatten der Anlage reiten konnte. Die geschleiften, aber noch immer gewaltigen Mauern waren schon stark verwittert. Granit und heller Kalkstein waren im Lauf der Jahrhunderte offenbar aus der Festung geplündert worden. Vom Tempel im Inneren der Anlage waren nur noch ein paar mächtige Säulenreihen übrig, die – wie Achamian vermutete – zu stattlich gewesen waren, um sie niederzureißen und an die Küste zu schleppen. Batathent war eine der wenigen Festungen gewesen, die den Zusammenbruch von Kyraneas in der Ersten Apokalypse überstanden hatten – und damit eine Zufluchtsstätte derer, die sich vor den gruppenweise auf Menschenjagd gegangenen Scylvendi und Sranc in Sicherheit bringen wollten. Diese Anlage hatte also einst ihre schützende Hand über das schwache Licht der Zivilisation gehalten.
Achamian streifte durch die Festung. Sein historisches Wissen rückte ihm die uralten Steine ganz nah und ließ ihn Ehrfurcht empfinden. Erst als er
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