Schattenfall
Hügelgräber der Vorfahren aus dem Rasen. Cnaiürs Vater lag hier begraben – wie all seine Vorväter von Anbeginn.
Warum war er hierhergekommen? Welchen Zweck konnte so eine einsame Pilgerreise haben? Kein Wunder, dass sein Stamm ihn für verrückt hielt. Er war jemand, der sich lieber mit Toten als mit Weisen beriet.
Ein recht gerupft wirkender Geier stieg von den Grabhügeln auf, stand wie ein Drachen am Himmel und kippte dann seitwärts außer Sicht. Einige Augenblicke vergingen, ehe Cnaiür das Seltsame daran auffiel: Erst vor kurzem musste hier ein Lebewesen gestorben und weder begraben noch verbrannt worden sein.
Er trabte vorsichtig näher und versuchte angestrengt, zwischen den Grabhügeln etwas zu erkennen. Der Wind blies ihm mit betäubender Wucht ins Gesicht und ließ seine Strähnen flattern.
Den ersten Toten fand er neben dem Hügel, der ihm am nächsten lag. Zwei schwarze Pfeile, die aus so großer Nähe abgefeuert worden waren, dass sie das Kettenhemd durchschlagen hatten, steckten in seinem Rücken. Cnaiür stieg ab, musterte den Boden ringsum, schob das Gras mit den Händen beiseite und entdeckte Spuren.
Sranc… Sranc hatten diesen Mann getötet. Er musterte die Hügelgräber erneut, suchte das Gras ab und lauschte, konnte aber nur das Heulen des Windes hören. Und hin und wieder zänkische Schreie weit entfernter Geier.
Der Tote war nicht verstümmelt. Die Sranc waren offenbar unterbrochen worden.
Mit dem Stiefel drehte Cnaiür den Mann auf den Rücken. Dabei zerbrachen die Pfeile mit trockenem Knacken. Das graue Gesicht des Toten stierte zum Himmel. Aufgrund der Leichenstarre war der Kopf in den Nacken gebogen, die blauen Augen aber waren noch gut zu sehen. Der Mann war ein Norsirai, wie sein blondes Haar verriet. Doch was mochte ihn hergeführt haben? Gehörte er zu einer Schar von Plünderern, die – wie schon früher geschehen – von zahlenmäßig überlegenen Sranc nach Süden verfolgt worden waren?
Cnaiür nahm sein Pferd am Zaum und zog es ins Gras hinunter. Dann zückte er sein Schwert, hetzte gebückt durchs Gelände und war kurz darauf zwischen den Grabhügeln…
Dort fand er den zweiten Toten. Er hatte seinem Mörder ins Angesicht geblickt. Ein Pfeil hatte ihn von hinten in den linken Oberschenkel getroffen und ihm die Flucht unmöglich gemacht, und die Sranc hatten den Verwundeten in einer für sie typischen Weise umgebracht: Erst hatten sie ihm die Eingeweide ausgeräumt und ihn dann mit seinen eigenen Gedärmen erwürgt. Doch von der klaffenden Bauchwunde abgesehen, konnte Cnaiür keine weiteren Verletzungen entdecken. Er kauerte sich nieder, griff nach der kalten Hand des Toten und untersuchte die Schwielen. Sie waren zu weich. Wenigstens waren das also keine Plünderer – jedenfalls nicht alle. Aber was hatten sie dann hier gewollt? Welche fremden, noch dazu aus der Stadt kommenden Dummköpfe mochten es riskiert haben, durchs Gebiet der Sranc zu reisen, um zu den Scylvendi zu gelangen?
Kaum hatte der Wind gedreht, merkte Cnaiür, wie nah er den Geiern inzwischen war, und hetzte weiter nach links, um sich dem Ort, an dem die meisten Leichen liegen mussten, im Schutz eines der größeren Grabhügel zu nähern. Auf halber Höhe dieses Hügels stieß er auf den ersten toten Sranc, den ein Schwerthieb tief in den Nacken getroffen hatte. Wie bei den Sranc zu erwarten, war die Leiche fast versteinert und hatte aufgesprungene, zwischen violett und schwarz changierende Haut. Der Tote lag eingerollt wie ein Hund da und hatte seinen aus einem Knochen geschnitzten Bogen noch in der Hand. Die Stellung der Leiche und die Spuren im Gras zeigten Cnaiür, dass der Sranc auf der Kuppe mit solcher Wucht niedergestreckt worden war, dass er beinahe bis an den Fuß des Grabes gerollt war.
Die Mordwaffe lag ein kleines Stück oberhalb der Leiche: eine eiserne schwarze Axt, deren Griff mit gegerbter Menschenhaut bespannt und mit einem Ring aus Menschenzähnen geschmückt war. Ein Sranc, den eine Waffe der Sranc getötet hatte…
Was mochte hier geschehen sein?
Plötzlich war Cnaiür sich deutlich bewusst, dass er an der Flanke eines Hügelgrabs kauerte, zwischen all seinen toten Vorvätern. Verständlicherweise empörte ihn dieses Sakrileg – weit mehr aber erfüllte es ihn mit Angst. Was mochte es bedeuten?
Mit nervös angehaltenem Atem erklomm er den Hügel.
Die Geier hockten scharenweise am Fuß des nächsten Grabes und stocherten mit vom Wind zerzaustem Gefieder in ihrer Beute.
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