Schattenfall
rufen?«
»Einer, der seinen Sohn zu den Gegnern rechnet.« Das ist nicht alles… Mir fehlt hier noch was.
Er betrachtete den Norsirai über die Flammen hinweg und spürte, dass Kellhus seine Überlegungen einmal mehr mitbekommen hatte. Wie sollte er sich in diesem Kleinkrieg bloß durchsetzen? Wie konnte er jemanden bezwingen, der seine Gedanken noch aus den geringsten Veränderungen seiner Miene geradezu wittern konnte? Mein Gesicht – ich muss mein Gesicht verbergen.
»Gegen wen führt er denn Krieg?«, fragte Cnaiür.
»Das weiß ich nicht«, gab Kellhus zurück und wirkte einen Moment fast verzweifelt – wie jemand, der alles gewagt hat, um einer heraufziehenden Katastrophe die Stirn zu bieten.
Versucht er etwa, bei einem Scylvendi Mitleid auszulösen? Cnaiür hätte beinahe losgelacht. Vielleicht hab ich ihn überschätzt… Doch wieder rettete ihn seine Intuition.
Mit seinem blitzenden Messer säbelte Cnaiür noch eine Scheibe Amicut ab, getrocknetes Rindfleisch mit Wildkräutern und Beeren also, das auf dieser Reise ihr wichtigstes Lebensmittel war. Beim Kauen musterte er den Dûnyain gelassen.
Er will, dass ich ihn für schwach halte.
13. Kapitel
DAS HETHANTA-GEBIRGE
Selbst Hartherzige weichen wild Verzweifelten aus. Denn die Wut der Schwachen rückt sogar dicksten Steinen zu Leibe.
Sprichwort aus Conriya
Wer also waren die Helden, wer die Feiglinge des Heiligen Kriegs? Es gibt schon Lieder genug, die diese Frage beantworten. Und eigentlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass dieser Krieg einmal mehr und sehr nachdrücklich die Richtigkeit eines alten Merksatzes des Ajencis erwiesen hat, der da lautet: »Mag sein, dass alle Menschen letztlich gleichermaßen schwach sind – die Unterschiede zwischen ihnen sind dennoch schockierend.«
Drusas Achamian, Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
IN DER STEPPEJIÜNATI, FRÜHLING 4111
Noch nie hatte Cnaiür eine solche Prüfung erlebt.
Sie reisten nach Südosten und blieben im Großen und Ganzen unentdeckt und unbehelligt. Vor der Katastrophe am Kiyuth hatten Cnaiür und seine Männer kaum einen Tag reisen können, ohne auf einen Trupp Munuäti oder Akkunihor oder auf Mitglieder eines anderen Scylvendi-Stamms zu stoßen. Nun aber vergingen in der Regel drei bis vier Tage, ehe der Utemot und Kellhus angehalten wurden. Manche Jagd- und Weidegründe durchquerten sie sogar, ohne auch nur einem Menschen zu begegnen.
Anfangs hatte Cnaiür den Anblick heranpreschender Reiter gefürchtet. Zwar schützte die Tradition jeden Krieger der Steppe, der eine Plünderwallfahrt ins Kaiserreich unternahm, und in besseren Zeiten waren solche Begegnungen Anlass gewesen, miteinander zu plaudern, Informationen auszutauschen, Grüße an Verwandte zu bestellen und das Kriegsbeil – sollte es denn ausgegraben sein – jedenfalls kurzzeitig beiseite zu legen. Doch es war ungewöhnlich, dass ein einzelner Krieger in Begleitung eines Sklaven unterwegs war, und die besseren Zeiten waren vorbei. Cnaiür wusste, dass in richtig schlechten Tagen nichts rarer ist als Toleranz. In der Not legen die Menschen Sitten und Gebräuche strenger aus und sind gegenüber Abweichungen von der Norm weniger nachsichtig.
Doch die meisten Reiterscharen, denen die beiden begegneten, bestanden aus Jungen mit mädchenhaftem Gesicht und zarten Gliedern. Wenn Cnaiürs vernarbte Arme den Kindern nicht schon solche Ehrfurcht einflößten, dass sie ihr Auftauchen nur noch stotternd zu rechtfertigen wagten, warfen sie sich allenfalls nach Art Halbwüchsiger in Pose und ahmten stolz Worte und Verhaltensweisen ihrer toten Väter nach. Stets begleiteten sie Cnaiürs Erklärungen mit einem wissenden Nicken und warfen denen, die kindische Fragen zu stellen wagten, finstere Blicke zu. Nur wenige von ihnen waren schon im Kaiserreich gewesen, das ihnen deshalb ein Land der tausend Wunder schien. Und irgendwann baten ihn alle, ihre toten Verwandten zu rächen.
Bald merkte Cnaiür, dass er sich nach diesen Begegnungen sehnte – nach der Abwechslung, die sie ihm boten.
Die Steppe dehnte sich so gut wie konturlos vor den beiden aus. Unbeeindruckt von der Trostlosigkeit, die seit der Schlacht am Kiyuth über dem Land lag, wurden die Weidegründe grüner und saftiger. Purpurne Blüten – nicht größer als ein Fingernagel – schaukelten in der Brise. Der Wind schien die Prärie ringsum in ein wogendes Gräsermeer zu verwandeln. Mit von Langeweile eingelulltem
Weitere Kostenlose Bücher