Schattenfall
Hass sah Cnaiür immer wieder den schwerfällig zum Horizont ziehenden Wolkenschatten nach. Und obwohl er wusste, dass sie sich im Herzen der Steppe Jiünati befanden, hatte er das Gefühl, durch ein fremdes Land zu reiten.
Am Morgen des neunten Tages ihrer Reise war der Himmel dicht bewölkt, und es begann zu regnen.
Der Regen schien endlos. Wohin die beiden auch sahen – überall begegnete ihnen das gleiche Grau, und sie hatten den Eindruck, sie ritten durch eine völlige Leere. Der Mann aus dem Norden wandte sich an Cnaiür, und man konnte glauben, seine Augen wären in den Höhlen verschwunden. Nasse Haarsträhnen umrahmten sein schmales Gesicht und kräuselten sich bis in seinen Bart hinunter.
»Erzähl mir von Shimeh«, sagte Kellhus.
Dieser Mann konnte einfach nicht aufhören zu bohren.
Shimeh… Ob sich Moënghus dort wirklich aufhält?
»Die Stadt ist den Inrithi heilig«, gab Cnaiür zurück und sah dabei nicht auf, denn es goss in Strömen, »doch sie gehört den Fanim.« Er machte sich nicht die Mühe, die Stimme zu heben, denn ihm war klar, dass sein Begleiter ihn trotz des monoton niederprasselnden Regens verstand.
»Wie ist das passiert?«
Cnaiür dachte über diese Frage sorgfältig nach, als wollte er feststellen, ob sie Gift enthielte. Er hatte beschlossen, sich genau zu überlegen, was er dem Dûnyain über das Gebiet der Drei Meere erzählen und was er ihm besser verschweigen würde. Denn man konnte nie wissen, welche Waffen Kellhus in petto hatte.
»Die Fanim«, erwiderte der Häuptling vorsichtig, »haben sich vorgenommen, den Stoßzahn in Sumna zu zerstören. Seit vielen Jahren schon kämpfen sie gegen das Kaiserreich. Shimeh ist nur eine von vielen Trophäen, die sie errungen haben.«
»Kennst du die Fanim gut?«
»Ziemlich. Vor acht Jahren hab ich sie mit meinen Utemot bei Zirkirta angegriffen. Das ist recht weit im Süden.«
Der Dûnyain nickte. »Deine Frauen haben mir berichtet, dass du dort einen großen Sieg errungen hast.«
Anissi – hast du ihm das erzählt? Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie ihn mit jedem Wort verraten, dabei aber geglaubt hatte, in seinem Interesse zu handeln. Cnaiür wandte sich ab und suchte im Bleigrau ringsum nach einer Ahnung von Horizont. Er wusste, dass Kellhus mit solchen Bemerkungen nur auf seine Eitelkeit zielte, und beschloss, auf nichts mehr zu reagieren, das auch nur im Ansatz vertraulich wurde.
Der Dûnyain kam auf die Widersacher der Nansur und der Inrithi zurück: »Die Fanim wollen den Stoßzahn zerstören? Was hat es mit dem Ding eigentlich auf sich?«
Diese Frage schockierte Cnaiür. Selbst seine ahnungslosesten Verwandten hatten schon vom Stoßzahn gehört. Vielleicht wollte Kellhus seine Antwort ja nur mit dem vergleichen, was andere zu diesem Thema gesagt hatten.
»Es handelt sich dabei um die erste Heilige Schrift der Menschheitsgeschichte«, sagte er in den Regen hinein und blieb von Kellhus abgewandt. »Ehe Lokung geboren wurde, haben selbst wir Scylvendi an den Stoßzahn geglaubt.«
»Euer Gott ist durch Geburt in die Welt gekommen?«
»Ja, vor langer Zeit. Er ist es auch gewesen, der die nördlichen Regionen verwüstet und den Sranc überlassen hat.« Cnaiür legte den Kopf in den Nacken und ließ einen herrlichen Moment lang kaltes Wasser über Stirn und Gesicht rinnen. Der Regen schmeckte süß. Er spürte, wie der Dunyain ihn im Profil musterte. Was siehst du?
»Und die Fanim?«, fragte Kellhus.
»Was ist mit ihnen?«
»Werden sie uns am Durchqueren ihres Gebiets hindern?«
Cnaiür unterdrückte den Wunsch, seinen Begleiter anzusehen. Ob zufällig oder mit Absicht: Kellhus hatte etwas angesprochen, das dem Häuptling Sorgen machte, seitdem er zu dieser Reise entschlossen war. Als Cnaiür sich damals – wie lang schien das nun schon her! – zwischen den Toten am Kiyuth versteckt hatte, hatte er Ikurei Conphas von einem Heiligen Krieg der Inrithi sprechen hören. Aber gegen wen? Gegen die Orden oder gegen die Fanim?
Cnaiür hatte die Reiseroute sorgfältig gewählt. Er wollte durchs Hethanta-Gebirge ins Kaiserreich reiten, obwohl ein einzelner Scylvendi in Nansur keine lange Lebenserwartung hatte. Es wäre besser gewesen, das Kaiserreich zu meiden und gleich nach Süden zu den Quellflüssen des Sempis und an deren Ufern weiter nach Shigek zu reisen, also in den nördlichsten Verwaltungsbezirk von Kian. Von dort hätten sie einfach die traditionellen Pilgerstraßen nach Shimeh nehmen können. Angeblich
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