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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Meter von den Reitern entfernt flogen Bienen von Blüte zu Blüte, und wann immer die beiden durch stehende Gewässer ritten, fielen Wolken von Stechmücken über sie her. Doch bald schien der Frühling sich täglich weiter zurückzuziehen: Der Boden wurde steiniger, das Gras kürzer und bleicher, die Insekten zusehends träger.
    »Wir gewinnen immer mehr an Höhe«, stellte Kellhus fest.
    Obwohl Cnaiür aus der Beschaffenheit des Geländes längst auf die Nähe der Berge geschlossen hatte, war es Kellhus, der das Hethanta-Gebirge am Horizont entdeckte. Wie immer, wenn der mächtige Höhenzug vor ihm auftauchte, spürte Cnaiür das Kaiserreich auf der anderen Seite richtiggehend – dieses Labyrinth prächtiger Gärten, weiter Felder und altehrwürdiger Städte. Früher war Nansur das Ziel der jährlichen Wallfahrten seines Stamms gewesen, und stets hatte sich unter der zerstörerischen Hand seiner Männer das eine oder andere Gebiet in eine Gegend verzweifelter Menschen und brennender Landhäuser verwandelt und war so zum Ort ihres Gottesdienstes geworden. Diesmal aber würde Nansur ein – vielleicht unüberwindbares – Hindernis sein. Sie hatten niemanden getroffen, der etwas vom Heiligen Krieg wusste, und es sah ganz so aus, als müssten sie das Gebirge überschreiten und ins Kaiserreich reisen.
    Als Cnaiür das erste Zelt in der Ferne entdeckte, war er weit gerührter als mit seinem männlichen Selbstbild vereinbar. Seines Wissens ritten sie durchs Land der Akkunihor. Wenn sie von jemandem erfahren konnten, ob das Kaiserreich sich mit Kian im Heiligen Krieg befand, dann von diesem Stamm, durch dessen Gebiet fast alle Pilger reisen mussten. Wortlos riss der Utemot sein Pferd herum und ritt aufs Lager zu.
    Kellhus merkte als Erster, dass etwas nicht stimmte.
    Tonlos sagte er: »Das Lager ist tot.«
    Cnaiür erkannte, dass der Dunyain recht hatte. Zwar waren mehr als dreißig Zelte zu sehen, doch kein einziger Bewohner und – bedeutsamer noch – kein Vieh. Die Wiesen, über die sie ritten, waren weder gemäht noch abgeweidet, und aus dem Lager schlug ihnen die unwirkliche Melancholie achtlos zurückgelassener Dinge entgegen.
    Die Hochstimmung des Häuptlings verwandelte sich in Ärger. Wenn es hier keine Scylvendi gab, dann gab es auch keine Nachrichten über die Lage – und keine Aussicht, doch noch um die Reise ins Kaiserreich herumzukommen.
    »Was ist passiert?«, fragte Kellhus.
    Cnaiür stierte zu Boden. Er wusste, was geschehen war. Nach der Katastrophe am Kiyuth hatten die Nansur die ganze Gegend durchkämmt. Offenbar war ein Trupp kaiserlicher Soldaten zufällig auf das Lager gestoßen und hatte die Bewohner abgeschlachtet oder versklavt. Auch Xunnurit hatte zu den Akkunihor gehört. Vielleicht war sein ganzer Stamm vernichtet worden.
    »Ikurei Conphas«, sagte Cnaiür etwas erschrocken darüber, wie gleichgültig ihm dieser Name geworden war. »Für dieses Massaker ist der Neffe des Kaisers verantwortlich.«
    »Wie kannst du so sicher sein?«, fragte Kellhus. »Vielleicht haben die Bewohner das Lager einfach nicht mehr gebraucht.«
    Cnaiür zuckte die Achseln, wusste aber, dass diese Spekulation absurd war. Zwar konnte man in der Prärie seine Zelte leicht woanders aufschlagen – nie aber würden die Scylvendi ihre Habe zurücklassen, denn sie brauchten alles, was sie besaßen.
    Dann begriff er mit unerklärlicher Gewissheit, dass Kellhus ihn umbringen würde.
    Vor ihnen ragten die Berge auf, und hinter ihnen erstreckte sich die weite Prärie. Hinter ihnen – der Sohn des Moënghus brauchte ihn also nicht mehr.
    Er wird mich im Schlaf töten.
    Nein. Das durfte nicht sein. Nicht, nachdem er so weit gereist war, so viel ertragen hatte. Er musste sich an den Sohn halten, um den Vater zu finden. Das war der einzige Weg!
    »Wir müssen über die Berge«, erklärte er und tat, als musterte er das verwüstete Lager.
    »Die sehen gewaltig aus«, gab Kellhus zurück.
    »Sie sind auch gewaltig… Aber ich kenne den kürzesten Weg.«
     
     
    An diesem Abend schlugen sie ihr Lager zwischen den verlassenen Zelten auf. Cnaiür wies jeden Versuch des Dunyain zurück, ihn ins Gespräch zu ziehen, lauschte stattdessen dem Heulen der Bergwölfe im Wind und warf den Kopf bei jedem Knacken und Knarren der Zelte herum.
    Er hatte mit Kellhus einen Handel abgeschlossen: Der Dûnyain bekam seine Freiheit zurück und sicheres Geleit durch die Steppe, und im Gegenzug würde der Häuptling an Moënghus Blutrache für seinen

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