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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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beinahe mit offenem Mund angestiert. Seine Augen jedenfalls waren in erschrockenem Staunen weit aufgerissen. Kellhus wusste sofort, welche Miene er aufsetzen, welchen Ton er anschlagen und welche Worte er wählen musste, um seinen Begleiter zu beruhigen und dabei zugleich den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung zu tilgen.
    »Sind alle Krieger so? Zucken alle vor der Wahrheit zurück?«
    Doch etwas ging schief: Kaum hatte Cnaiür das Wort »Wahrheit« vernommen, verließ ihn alle Energie, und er wurde so schläfrig wie ein Fohlen beim Aderlass.
    »Wahrheit? Du lügst, wenn du den Mund aufmachst, Dûnyain. Du redest nicht wie andere Menschen.«
    Woher er das wieder wissen mochte… ? Aber es war noch nicht zu spät.
    »Und wie reden andere Menschen?«
    »Ihre Worte gehören ihnen nicht. Darum können sie keine eigene Sprachspur ziehen.«
    Zeig ihm den Wahnwitz. Er wird ihn schon begreifen.
    »Wer spricht, bewegt sich in einem nach allen Seiten hin gleichmäßig wuchernden Geflecht aus Worten, das keine Straßen, Schneisen, Perspektiven kennt, sondern weglos ist, Scylvendi – so weglos wie die Steppe.«
    Kellhus bemerkte seinen Fehler sofort. Wut funkelte in den Augen seines Begleiters, und es konnte keinen Zweifel darüber geben, woher sie rührte.
    »Die Steppe«, rief Cnaiür heiser, »ist weglos, was, Dûnyain?«
    Hast etwa auch du diesen Pfad gewählt, Vater?
    Kein Zweifel: Moënghus hatte sich vor allem der Steppe – also der zentralen Größe im Glauben der Scylvendi – bedient. Indem er die weglose Prärie und die eingefahrenen Traditionen der Scylvendi gegeneinander ausgespielt hatte, hatte er Cnaiür Dinge tun lassen können, die ihm sonst unvorstellbar gewesen wären. Um der Steppe treu zu sein, muss man sich der Tradition verweigern. Und mit dem Fehlen der überkommenen Verbote war alles – auch die Ermordung des eigenen Vaters – vorstellbar geworden.
    Eine einfache und wirkungsvolle List. Aber letztlich war sie zu einfach gewesen – und zu leicht zu durchschauen, was Cnaiür nach dem Verschwinden von Moënghus viel zu viel Einblick in die Welt der Dûnyain gestattet hatte.
    »Wieder der Wirbelsturm!«, rief der Häuptling rätselhaft.
    Er ist verrückt.
    »Jedes Wort«, tönte Cnaiür, »schmerzt wie ein Peitschenhieb!«
    Kellhus sah in den Gesichtszügen des Häuptlings nur Mord und Aufruhr stehen – und in den Augen funkelnde Rache.
    Bis zum Ende der Steppe, keinen Schritt weiter. Ich brauche ihn nur, um das Gebiet der Scylvendi zu durchqueren. Wenn er sich meinem Willen nicht ergibt, ehe wir das Gebirge erreichen, bringe ich ihn um.
     
     
    An diesem Abend sammelten sie trockene Gräser und banden sie garbenweise zusammen. Nachdem sie einen kleinen Haufen aufgeschichtet hatten, zündete Cnaiür ihn an. Dann setzten sie sich nah ans Feuer und verzehrten schweigend ihre Vorräte.
    »Warum hat Moënghus dich wohl gerufen?«, fragte der Häuptling und erschrak dabei, so seltsam fand er es, diesen Namen auszusprechen. Moënghus…
    Der Dûnyain kaute vor sich hin und sah gedankenverloren in die goldenen Flammen. »Ich weiß es nicht.«
    »Aber eine Vermutung wirst du doch haben – schließlich hat er dir Träume gesandt…«
    Die unerbittlichen blauen Augen des Dûnyain, die im Schein des Feuers glitzerten, suchten Cnaiürs Blick. Die Prüfung beginnt, dachte der Utemot, begriff dann aber, dass sie schon in dem Moment, da er seine Frauen als Mittler zu Kellhus ins Zelt geschickt hatte, begonnen und seitdem angedauert hatte.
    Das Gewogenwerden höret nimmer auf.
    »Ich habe nur Bilder geträumt«, sagte Kellhus. »Bilder von Shimeh. Und von einem gewaltigen Völkerringen. Geschichte habe ich geträumt – also ausgerechnet das, was den Dûnyain ein Gräuel ist.«
    Es war Cnaiür nicht entgangen, dass Kellhus seine Antworten ständig mit Bemerkungen spickte, die nach einer scharfen Erwiderung oder nach weiteren Fragen verlangten. Geschichte sollte den Dûnyain ein Gräuel sein? Doch gerade das hatte Kellhus im Sinn: Er wollte Cnaiür von den wichtigeren Fragen ablenken. Diese Raffinesse war wirklich zum Verrücktwerden!
    »Und doch hat er dich gerufen«, bohrte Cnaiür nach. »Wer tut das schon, ohne Gründe zu nennen?« Doch nur jemand, der sicher ist, dass der Gerufene sich nicht entziehen kann…
    »Mein Vater braucht mich. Mehr weiß ich nicht.«
    »Er braucht dich? Wozu?« Das ist die entscheidende Frage!
    »Er führt Krieg, Häuptling. Welcher Vater würde da nicht seinen Sohn zu Hilfe

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