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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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übersehen konnte. Er beobachtete, wie Iyokus – sein Oberster Kundschafter und engster Berater – fast wie ein Gespenst durch den in der prallen Sonne liegenden Garten kam. Der Mann hetzte herbei, als machte die strahlende Helligkeit ringsum auf ihn Jagd. Kaum war er aus der Sonne in den Schatten getreten, schien es, als habe Staub sich plötzlich in Stein verwandelt. Iyokus nickte beim Näherkommen. Seine Gegenwart allein weckte in Eleäzaras oft ein Gefühl von Bedrohung – als würde er in einem Gesicht die ersten Anzeichen von Pest entdecken. Der Geruch seiner altmodischen Duftwasser hingegen vermittelte einen merkwürdigen Trost.
    »Ich habe Neuigkeiten aus Sumna«, sagte Iyokus, nahm einen silbernen Kelch vom Tisch und schenkte sich Wein ein. »Über Kutigha.«
    Bis vor kurzem war Kutigha ihr letzter Kundschafter bei den Tausend Tempeln gewesen, nachdem die anderen allesamt enttarnt und hingerichtet worden waren. Doch sein Verbindungsoffizier hatte seit Wochen nichts von ihm gehört.
    »Du glaubst also, er ist tot?«, fragte Eleäzaras verdrossen.
    »Ja«, gab Iyokus zurück.
    Nach all den Jahren hatte Eleäzaras sich an Iyokus gewöhnt, doch irgendwo lauerte noch eine schwache Erinnerung an seinen anfänglichen Abscheu in ihm. Iyokus war süchtig nach Chanv – der Droge, die einen großen Teil der herrschenden Kaste von Ainon in den Klauen hatte, nicht aber (und das überraschte Eleäzaras immer wieder) Chepheramunni, die jüngste Marionette, die sie auf den Thron von Ainon gehievt hatten. Wer sich den süßen Stich leisten konnte, dem schärfte Chanv den Verstand und ließ ihn länger als hundert Jahre leben, doch es nahm dem Körper auch die Pigmente und war – wie einige sagten – jeglicher Motivation abträglich. Iyokus sah noch immer genauso aus wie an dem Tag, da Eleäzaras vor vielen Jahren als Junge in den Orden eingetreten war. Anders als andere Süchtige nahm er keine Kosmetika, um die Unzulänglichkeiten seiner Haut zu überspielen, die durchsichtiger war als das eingefettete Leinen, das bei armen Leuten die Fenster ersetzen musste. Am ganzen Körper waren seine verzweigten Adern zu sehen und erinnerten an tiefrote, gichtbrüchige Würmer. Wenn er die Lider schloss, konnte man sogar die dunklen Pupillen in der Mitte der roten Augen sehen. Aufgrund von Prellungen waren seine Fingernägel mit wächsernem Schwarz hinterlegt.
    Als Iyokus seinen Stuhl an den Tisch zog, merkte Eleäzaras, dass er selbst ein wenig zu schwitzen begonnen hatte, und ertappte sich dabei, seine braungebrannten Arme in ganzer Länge zu mustern. So dünn sie waren, besaßen sie drahtige Kraft, Energie. Trotz der ästhetischen Verheerungen, die die Sucht anrichtete, wäre Eleäzaras den Verlockungen der Droge womöglich erlegen, zumal sie im Ruf stand, den Verstand zu schärfen. Was ihn davor bewahrt hatte, in diese matte und merkwürdig egozentrische Liebesgeschichte abzurutschen – die Abhängigen heirateten nur selten und hatten kaum Kinder –, war vielleicht nur die beunruhigende Tatsache, dass niemand die Herkunft des Chanv kannte, was für Eleäzaras unerträglich war. Während seines so heimtückischen wie steilen Aufstiegs zum Gipfel, auf den er nun gelangt war, hatte er nie in Unkenntnis entscheidender Tatsachen gehandelt.
    Bis heute.
    »Also haben wir keinen Informanten mehr in den Tausend Tempeln?«, fragte er nun, obwohl er die Antwort kannte.
    »Jedenfalls keinen, dem zuzuhören sich lohnt… Auf ganz Sumna ist ein Leichentuch gefallen.«
    Eleäzaras blickte in den gleißenden Hof – auf gepflasterte, von speerartig aufragendem Wacholder gesäumte Wege, auf eine riesige Weide, deren Äste über einem glasgrünen Teich hingen, und auf Wächter mit falkenartigen Gesichtern.
    »Was hat das zu bedeuten, Iyokus?«, fragte er. Ich habe den wichtigsten Orden der Drei Meere in größte Gefahr gebracht.
    »Dass wir glauben müssen«, sagte Iyokus, und in seiner Antwort lag schulterzuckender Fatalismus. »An diesen Maithanet.«
    »Glauben? An jemanden, von dem wir nichts wissen?«
    »Darum ist es ja Glaube.«
    Nie hatte Eleäzaras eine schwierigere Entscheidung treffen müssen als die, sich dem Heiligen Krieg anzuschließen. Als ihm Maithanets Einladung zugegangen war, hatte er zunächst darüber lachen wollen. Die Scharlachspitzen in einem Heiligen Krieg? Diese Vorstellung war zu absurd, um auch nur für einen Moment in Betracht zu kommen. Vielleicht hatte Maithanet seiner Aufforderung darum sechs Chorae als Geschenk

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