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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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sagte Kellhus plötzlich. Sofort verstummten die Inrithi und lauschten seiner bis dahin nicht vernommenen Stimme. »Ich will nicht so tun, als könnte ich euch meine Träume erklären, denn ich kenne ihre Bedeutung nicht.« Er habe im heiligen Bezirk ihres Gottes gestanden, berichtete er ihnen, aber das habe ihn nicht anmaßend werden lassen. Er zweifele, wie rechtschaffene Menschen eben zweifeln, und dulde bei der Suche nach Wahrheit keine Heuchelei oder Verstellung. »Doch eines weiß ich: Ihr steht vor einer klaren Alternative.« Die Verkündung dieser Gewissheit hatte durch die zuvor eingeräumte Ungewissheit Gewicht gewonnen. Das Wenige, was ich weiß, so gab er ihnen zu verstehen, weiß ich sicher.
    »Zwei Männer haben euch um ein Zugeständnis gebeten. Prinz Nersei Proyas möchte, dass ihr den Kriegszug einem heidnischen Scylvendi anvertraut, während Ikurei Xerius möchte, dass ihr euch an die Interessen des Kaiserreichs bindet. Die Frage ist einfach: Welches Zugeständnis ist größer?« Kellhus setzte Verdeutlichung als Mittel ein, Verständnis und Einsicht zu demonstrieren. Wenn die Inrithi seine Qualitäten auf diesem Gebiet anerkannten, würde das seinen Ruf bei ihnen festigen, sie auf weitere Respektsbekundungen einstimmen und sie davon überzeugen, dass aus ihm die Vernunft sprach und er nicht etwa seine eigenen Interessen vertrat.
    »Auf der einen Seite steht ein Kaiser, der den Gemeinen Heiligen Krieg bereitwillig mit Lebensmitteln versorgt hat, obwohl er wusste, dass die Vernichtung dieses Heers so gut wie sicher war. Auf der anderen Seite steht ein Häuptling, der die Gläubigen sein Leben lang ausgeplündert und umgebracht hat.« Er hielt kurz inne und lächelte bekümmert. »In meiner Heimat nennt man das ein Dilemma.«
    Herzliches Gelächter klang durch den Garten. Nur Xerius und Conphas lächelten nicht. Kellhus hatte die Aufmerksamkeit allein auf Xerius gelenkt, das Ansehen des Oberbefehlshabers geschickt umgangen und die Lage so dargestellt, als sei das Glaubwürdigkeitsproblem des Kaisers genauso groß wie das des Scylvendi. Damit hatte er sich ins Licht eines fairen und gerechten Mannes gerückt, diese Fairness mit freundlichem Witz unterstrichen, sich damit die Wertschätzung seiner Zuhörer noch weiter gesichert – und in den Hintergrund treten lassen, dass er eine recht seltsame Vorstellung vom Verständnis der Wahrheit hatte.
    »Zwar kann ich für die Ehre Cnaiürs von Skiötha bürgen, doch wer bürgt für mich? Nehmen wir also einfach an, beide – Kaiser wie Häuptling – seien gleichermaßen unglaubwürdig. Dann liegt die Lösung für die bessere Alternative in einem Umstand, der euch allen klar ist: Wir übernehmen die Arbeit Gottes, aber es ist dennoch finstere und blutige Arbeit. Es gibt keine schlimmere Aufgabe als Krieg.«
    Er musterte ihre Gesichter, fasste jedes einzelne kurz ins Auge und gab damit jedem Zuhörer für einen Moment das Gefühl, unter vier Augen mit ihm zu reden. Sie waren nahe dran – das sah er genau. Sie standen direkt vor der entscheidenden Schlussfolgerung, die die Vernunft selbst ihnen abgenötigt hatte. Sogar Xerius.
    »Es ist dabei egal, ob wir nun dem Kaiser oder dem Häuptling die Verantwortung antragen«, fuhr er fort. »Denn wir räumen beiden gleiches Vertrauen ein und machen uns an die gleiche Arbeit…«
    Kellhus hielt inne, sah Gotian an und erkannte, dass der Hochmeister zu einem Schluss kam, der ihm nicht als Ergebnis einer Manipulation erschien, sondern als Resultat seiner eigenen Überlegungen.
    »Aber wenn wir uns dem Kaiser anvertrauen«, sagte Gotian und nickte dabei langsam, »überlassen wir ihm nicht nur unsere Kampfkraft, sondern auch noch den Lohn unserer Arbeit.«
    Durch die Versammlung der Männer des Stoßzahns ging ein beipflichtendes Murmeln.
    »Was meint Ihr, Hochmeister?«, rief Prinz Saubon. »Ist der Tempelvorsteher jetzt überzeugt?«
    »Das ist doch Unfug!«, rief Ikurei Conphas. »Wie kann der Kaiser eines Landes, das sich zum Glauben der Inrithi bekennt, so unglaubwürdig sein wie ein heidnischer Wilder?!«
    Der Oberbefehlshaber hatte den Knackpunkt der Beweisführung des Dunyain sofort erkannt, doch sein Einspruch kam zu spät.
    Schweigend öffnete Gotian sein Kästchen, und zwei kleine Schriftrollen kamen zum Vorschein. Er zögerte; sein ernstes Gesicht war ganz bleich. Er hielt die Zukunft des Gebiets der Drei Meere in Händen, war sich dessen bewusst und öffnete die Rolle mit dem schwarzen Wachssiegel darum so

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