Schattenfall
junger Mann«, sagte Proyas gerade, »wurde ich von einem Lehrer aus dem Orden der Mandati unterrichtet, Conphas. Er würde wohl sagen, Ihr seid reichlich optimistisch, was die Scylvendi anlangt.«
Einige lachten über diese Bemerkung laut und offenbar erleichtert.
»Die Geschichten der Mandati«, sagte Conphas gelassen, »sind wertlos.«
»Mag sein«, gab Proyas zurück. »Doch darin sind sie denen der Nansur völlig gleich.«
»Darum geht es aber nicht, Proyas«, sagte der alte Gothyelk mit so starkem Akzent, dass sein Scheyisch kaum zu verstehen war. »Sondern darum, ob wir dem Heiden vertrauen können.«
Proyas wandte sich an den Scylvendi, der neben ihm stand, und war plötzlich unsicher.
»Also, Cnaiür?«, fragte er.
Der Häuptling hatte während des ganzen Wortwechsels geschwiegen, aus seiner Verachtung dabei allerdings kaum einen Hehl gemacht. Jetzt spuckte er in Richtung Conphas.
Kein Gedanke.
Der Junge war ausgelöscht, war nur ein Ort.
Dieser Ort.
Reglos saß ihm der Pragma gegenüber, die nackten Sohlen flach aneinandergelegt, die dunkle Kutte vom Schatten tiefer Falten gekerbt. Seine Augen waren leer wie das Kind, das er beobachtete.
Ein Ort ohne jeden Hauch oder Laut. Einzig zum Schauen. Und ohne Vorher und Nachher… fast ohne.
Denn nun fielen die ersten Sonnenstrahlen auf den Gletscher und schienen massiv wie dicke Äste im Wind. Schatten gewannen Kontur, und auf dem Schädel des Pragma schimmerte Licht.
Die Linke des Alten verließ den rechten Ärmel und hielt ein blasses Messer. Schon schnellte der Arm vor, die Hand ließ los, und das Messer segelte fast träge durch die Luft, wobei sich die Sonne und das dunkle Heiligtum in seiner funkelnden Schneide spiegelten…
Und der Ort, an dem sich einst ein Wesen namens Kellhus befunden hatte, streckte die offene Hand aus, wobei die blonden Härchen auf dem Arm im Kontrast zur gebräunten Haut wie leuchtende Fäden wirkten, und griff das Messer aus dem fassungslosen Raum.
Der Schlag des Knaufs gegen die Handfläche ließ die Vorstellung, nur noch ein Ort zu sein, zusammenbrechen und machte Kellhus jäh wieder bewusst, ein kleiner Junge zu sein. Gleich bemerkte er den schwachen Gestank seines Körpers. Und das Atmen, Geräusche und schlingernde Gedanken.
Ich habe die Legion kennengelernt…
Aus dem Augenwinkel konnte er die Sonne vom Gletscher leuchten sehen. Er fühlte sich trunken vor Erschöpfung. Als das Trance-Bewusstsein noch mal kurz in ihm nachhallte, hatte er den Eindruck, er könnte nur die Zweige sich im Wind biegen und auf und ab bewegen hören – diese Zweige, die von Blättern wie von einer Million handflächengroßer Segel bewegt wurden. Kausalität, wohin man sah, doch in ein so dichtes Geflecht unzähliger winziger Ereignisse eingebunden, dass sie nicht deutlich auszumachen und mithin nutzlos war.
Jetzt verstehe ich.
»Ihr wollt mich ausloten«, sagte Cnaiür schließlich. »Ihr wollt das Rätsel des Scylvendi-Herzens lösen. Aber ihr nehmt eure Herzen zum Maßstab, um das meine zu vermessen. Ihr seht einen Erniedrigten vor euch – Xunnurit. Einen Verwandten von mir. Und ihr sagt euch: Was muss das für eine Beleidigung sein! Da muss sein Herz ja nach Rache schreien! Das aber sagt ihr, weil euer Herz danach schreien würde. Doch mein Herz ist nicht das eure. Darum ist es euch ein Rätsel.
Xunnurit ist für mein Volk kein Name, mit dem es Schande verbindet. Er ist nicht einmal mehr namentlich gegenwärtig. Wer nicht mit uns reitet, gehört nicht zu uns, sondern ist ein grundsätzlich anderer. Aber ihr, die ihr euer Herz mit dem meinen verwechselt und nur zwei Scylvendi vor euch seht – einen gebrochenen Krieger und einen, der aufrecht steht –, ihr denkt, Xunnurit müsse noch immer zu mir gehören. Ihr glaubt, seine Erniedrigung sei auch die meine, und ich wolle sie rächen. Conphas möchte, dass ihr so denkt. Warum sonst wäre Xunnurit hier? Man kann dem Ansehen eines starken Menschen kaum nachhaltiger schaden als dadurch, ihm einen gebrochenen Mann als Doppelgänger zur Seite zu stellen. Vielleicht sollte besser mal das Herz der Nansur ausgelotet werden.«
»Aber unser Herz ist rechtgläubig«, sagte Conphas mit schneidendem Hohn. »Das ist längst bekannt.«
»O ja!«, rief Saubon hitzig. »Es ist so rechtgläubig, dass es Gott den Heiligen Krieg aus der Hand nehmen und zum Werkzeug eigener Interessen machen will.«
»Nein!«, stieß Conphas hervor. »Ich will den Heiligen Krieg für Gott retten. Er soll nicht
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