Schattenfall
bemutternden Hände wegnahm. »Geht schon«, brachte er mühsam hervor. »Ich muss nur einen Moment verschnaufen.«
Er atmete durch die Nase, hielt sich die Stelle, an der Sarcellus ihn mit voller Wucht am Kopf erwischt hatte, und fuhr sich mit zu Krallen gebogenen Fingern durch den Bart. Inrau setzte sich wieder auf seinen Platz und sah ängstlich zu, wie sein alter Lehrer erneut nach Wein langte.
»Das war etwas dramatischer, als ich’s mir gedacht hatte«, sagte Achamian schließlich. Als er mit schlotternden Händen den ersten Wein verschüttete, nahm Inrau ihm vorsichtig, aber bestimmt die Karaffe weg.
»Akka…«
Diese verflixten Hände! Müssen die immer zittern?
Achamian beobachtete, wie Inrau ihm ein Glas einschenkte. Ruhig. Wie konnte der Junge so ruhig sein?
»Etwas zu dramatisch, aber wirkungsvoll – trotz allem wirkungsvoll. Nur das zählt«, erklärte der Hexenmeister.
Mit Daumen und Zeigefinger wischte er sich Tränen aus den Augen. Wo kamen die denn her? Der brennende Schmerz. Das liegt am brennenden Schmerz.
»Den hab ich dazu gebracht, genau das zu tun, was ich wollte, Junge.« Diesem Satz folgte ein Schnauben, das ein Lachen hätte werden sollen. »Hast du mitbekommen, wie ich das angestellt habe?«
»Allerdings.«
»Gut«, meinte Achamian, trank seinen Kelch hastig leer und keuchte. »Immer schön die Augen aufsperren und lernen.«
Inrau schenkte ihm schweigend nach. Achamians Wange und Unterkiefer, die eben zwar schon feuerrot, aber noch betäubt gewesen waren, begannen zu schmerzen.
Unerklärliche Wut packte ihn. »Alle Furien hätte ich loslassen können!«, schimpfte er so leise, dass ihn niemand zu hören vermochte. Und wenn er zurückkommt? Achamian sah hastig zu Sarcellus und den beiden anderen Tempelrittern hinüber, die gerade über etwas lachten. Über einen Witz oder so.
»Mit meinen Formeln hätte ich ihm das Herz im Leibe garen können«, knurrte er.
Ein weiteres Glas Wein landete wie brennendes Öl in seinem klammen Magen.
»Das hätte ich nicht zum ersten Mal gemacht.« Bin wirklich ich das gewesen?
»Akka«, sagte Inrau. »Ich habe Angst.«
Noch nie hatte Achamian so viele Menschen an einem Ort gesehen – nicht einmal in Seswathas Träumen.
Der große Hauptplatz der Hagerna war eine wüste Versammlung von Menschen aller Art. Ein wenig entfernt ragten im strahlenden Sonnenschein die schrägen Mauern der Junriüma über der Menge auf. Von den Bauwerken ringsum schien nur die Festung gegen den Massenauflauf gefeit. Die anderen Gebäude – in den späteren, eleganteren Tagen des Ceneischen Kaiserreichs errichtet – waren von Kriegern, Frauen, Sklaven und Händlern überschwemmt. Die Balkone und langen Säulengänge der Verwaltungspaläste quollen von Schaulustigen über. Trauben von jungen Leuten hockten wie Tauben auf den geschwungenen Hörnern und dem Rücken der drei Agoglischen Stiere, die den Platz sonst dominierten. Sogar die breiten Prozessionsalleen, die sich im diffusen Einerlei der Vorstädte von Sumna verloren, waren voller dichtgedrängter Nachzügler, die noch hofften, näher an Maithanet und seine Offenbarung heranzukommen.
Achamian hatte bald bereut, sich so nah an die Festung Junriüma gedrängt zu haben. Schweiß lief ihm in die Augen. Von allen Seiten setzten ihm Arme, Beine und Leiber zu. Endlich würde Maithanet den Gegner seines Heiligen Kriegs verkünden, und die Gläubigen ergossen sich in hellen Strömen auf den Platz wie Wasser in ein Becken.
Immer wieder schob die Masse von hinten nach. Unmöglich, stehen zu bleiben, denn schon nach kürzester Zeit wurde man mit aller Kraft gegen den Vordermann gedrückt. Achamian bekam allmählich das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen werde von einer verborgenen Priesterarmee, die die Menge ersticken wollte, ruckweise weggezogen.
Irgendwann verfluchte er alles: die stechende Sonne, die Tausend Tempel, den Ellbogen zwischen den Schulterblättern und Maithanet. Doch seine zornigsten Anwandlungen galten Nautzera und der eigenen Neugier, denn er hatte den Eindruck, das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren habe ihn in diese Lage gebracht.
Dann wurde ihm plötzlich klar: Falb Maithanet den Orden den Krieg erklärt…
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn unter all diesen Menschen als Hexenmeister und Kundschafter erkannte? Er war schon einigen Leuten begegnet, die die schwindelerregende Aura des Chorum-Trägers umgab. Mitglieder der regierenden Kasten trugen ihre Anhänger
Weitere Kostenlose Bücher