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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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bestimmt, und seine Tränen seien Weihwasser, das er sich selbst spende.
    Mein Leben, dachte Inrau. Mein Leben.
    Er senkte den Kopf und zog ein paar mutwillige Grimassen, um seinem Weinen Einhalt zu gebieten. Wenn er nur vergessen könnte! Wenn er doch…
    Der Tempelvorsteher. Wie war das nur möglich?
    Er war ganz allein. Ringsum ragte ceneisches Mauerwerk auf und verlor sich in den dunklen Fluchten der Hagerna. Er ließ sich in die Hocke sinken, schlang die Arme um die Knie und verfiel in ein rhythmisches Wiegen, bei dem er immer wieder an die nasse Mauer stieß. Er wollte sich nur noch verkriechen und bis zur Besinnungslosigkeit weinen.
    Achamian, geliebter Lehrer… was hast du mir angetan?
    Wenn Inrau an seine Jahre in Atyersus dachte, wo er unter den wachsamen Augen von Drusas Achamian studiert hatte, musste er stets an jene Fahrten denken, die er – weit weg von der Insel Nron – mit Vater und Onkel im Fischerboot unternommen hatte, um Netze auszuwerfen, Fahrten, auf denen dunkle Wolken sich vor ihnen aufgebaut hatten, angesichts derer sein Vater sich aber – schwer beschäftigt, den silbrig schimmernden Fisch an Bord zu hieven – geweigert hatte, zurückzukehren.
    »Seht euch diesen Fang an!«, hatte er dann mit dem hysterischen Blick eines Menschen gerufen, den ausgerechnet in höchster Gefahr ein glücklicher Zufall trifft. »Momas ist uns wohlgesonnen! Gott ist uns wohlgesonnen!«
    Atyersus erinnerte Inrau an diese gefährlichen Fischzüge, und zwar nicht, weil Achamian dem Vater ähnlich gesehen hätte – nein, Inraus Vater war stark gewesen, seine Beine schienen mit dem Deck seines Bootes verwachsen, und sein Geist hatte nie vor den rollenden Wellen kapituliert –, sondern weil die Reichtümer, die Achamian durch Hexerei erwarb, Inrau um den Preis drohender Vernichtung angehäuft zu sein schienen, mithin so, wie schon sein Vater Beute gemacht hatte. Die Festung Atyersus war Inrau als gewaltiger Sturm erschienen, der zu hoch aufragenden Säulen und schwarzen Mauern erstarrt war, und Achamian hatte ihn stets an seinen Onkel erinnert, den der Zorn seines Vaters getroffen und der sich dennoch verzweifelt bemüht hatte, genug Fisch an Deck zu ziehen, um so vielleicht Bruder und Neffe zu retten. Inrau war überzeugt, er verdanke sein Leben Drusas Achamian. Die Mandati nämlich kehrten nie um und töteten alle, die ihre Netze kappten, um sich ans Ufer zu retten.
    Wie konnte man eine solche Schuld vergelten? Ein Darlehen ließ sich mit Wucherzinsen zurückerstatten, denn Geliehenes wie Zurückgezahltes war gleichermaßen Geld. Aber war der Tausch so einfach, wenn man jemandem sein Leben verdankte? Schuldete Inrau Achamian dafür, dass der ihn wieder an Land gebracht hatte, eine letzte Reise aufs stürmische Meer der Mandati? Irgendwie schien es Inrau falsch, Achamian mit gleicher Münze zurückzuzahlen, was er ihm schuldete – als habe sein alter Lehrer seine Gabe einfach zurückgefordert, statt um eine Gegengabe zu bitten.
    Inrau hatte in seinem Leben vieles getauscht. Indem er die Mandati zugunsten der Tausend Tempel verlassen hatte, hatte er den Kummer Seswathas gegen die tragische Schönheit von Inri Sejenus getauscht, den Schrecken der Rathgeber gegen den Hass der Cishaurim und das herablassende Abtun des Glaubens gegen die fromme Verdammung der Hexerei. In der ersten Zeit hatte er sich oft gefragt, was er durch den Wechsel seiner Berufung gewonnen hatte.
    Alles. Er hatte alles gewonnen: Glaube statt Wissen, Weisheit statt Gerissenheit, Herz statt Intellekt. Für die Berechnung seines Tauschgewinns gab es keine allgemeingültige Tabelle, da jeder Mensch – seinen persönlichen Neigungen entsprechend – seinen eigenen Gewinn- und Verlustsaldo erstellt. Inrau war wie geschaffen für die Tausend Tempel, und indem Achamian ihm erlaubt hatte, den Orden der Mandati zu verlassen, hatte er ihm alles gegeben. Deshalb war die Dankbarkeit, die Inrau für seinen alten Lehrer empfand, unermesslich und unbeschreiblich. Er könnte alles von mir bekommen, hatte er all die Jahre auf seinen Gängen durch die Hagerna immer wieder gedacht und war dabei vor Erleichterung und Freude geradezu berauscht gewesen. Alles könnte er von mir verlangen.
    Und nun war der Sturm gekommen. Inrau fühlte sich winzig – wie ein Junge, der allein dunklen und gewaltig anrollenden Wellen ausgesetzt ist.
    Bitte! Lass mich das vergessen!
    Einen Moment glaubte er, Stiefelschritte aus einer Seitengasse hallen zu hören, doch dann erklangen

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