Schattenfall
zurückgezogen? Wie lange haben wir den Angreifern mit kleinen und größeren Nadelstichen zugesetzt, ehe wir ihnen das Rückgrat gebrochen haben?« Er bedachte Xunnurit mit dem schaurigen Lächeln, mit dem er daheim oft seine Frauen zu Tränen trieb. Der König der Stämme richtete sich auf.
»Aber das…«
»… ist etwas ganz anderes, nicht wahr, Xunnurit? Doch wie geht das zusammen? Wie kann eine Schlacht einem Herd ähnlicher sein als einer anderen Schlacht? In Zirkirta haben wir uns in Geduld gefasst. Wir haben abgewartet und dadurch einen mächtigen Feind vernichtend geschlagen.«
»Aber es geht doch nicht nur ums Warten, Cnaiür«, rief eine dritte Stimme. Sie gehörte Oknai Einauge, dem Häuptling der einflussreichen Munuäti-Stämme aus dem Landesinneren. »Sondern darum, wie lange wir warten. Bald beginnt die Dürreperiode, und diejenigen von uns, die aus dem Herzen der Steppe gekommen sind, müssen ihre Herden auf die Sommerweiden treiben.«
Nach dieser Bemerkung wurden viele Rufe laut, als wäre Oknais Einwand der erste vernünftige Diskussionsbeitrag gewesen.
»So ist es«, erklärte Xunnurit, dem diese unvermutete Unterstützung wieder Oberwasser verschaffte. »Conphas ist schwer bepackt in unser Land gezogen. Der Tross, der seine Vorräte transportiert, ist größer als sein Heer. Wie lange sollen wir denn auf Fohlen und Schakal warten? Einen Monat? Zwei? Ein halbes Jahr?« Er drehte sich zu den anderen und erntete große Zustimmung.
Cnaiür strich sich mit der Hand über den Kopf und überflog die feindseligen Gesichter ringsum. Er verstand ihre Sorgen, denn es waren auch die seinen. Eine allzu lange Abwesenheit barg viele Gefahren. Vernachlässigte Herden zogen Wölfe und Krankheiten an und konnten sogar zu Hungersnöten führen. Bedachte man außerdem das Risiko von Sklavenrevolten, die Möglichkeit von Turbulenzen durch auf Abwege geratene Ehefrauen und – jedenfalls bei den Stämmen am Nordrand der Steppe, also auch bei seinem eigenen Stamm – die Bedrohung durch die Sranc, dann bekam die baldige Rückkehr einen unwiderstehlichen Reiz.
Als er sich Xunnurit wieder zuwandte, war ihm klar, dass der König den Übrigen die Entscheidung zum Angriff nicht aufgedrängt hatte. Obwohl sie wussten, dass Übereilung der geschworene Feind der Klugheit ist, wollten sie den Krieg schnell zu Ende bringen und waren darauf viel erpichter als damals in Zirkirta. Aber warum?
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. »Nun?«, fragte Xunnurit.
Hatte Ikurei Conphas vielleicht genau das beabsichtigt? Es ließe sich leicht auskundschaften, vermutete Cnaiür, welche jahreszeitlich bedingten Aufgaben auf die Stämme zukamen. War Conphas ganz bewusst in den Wochen vor der Sommerdürre einmarschiert?
Die Tragweite dieses Gedankens machte Cnaiür etwas benommen. Plötzlich hatte alles, was er miterlebt und gehört hatte, seit er vor ein paar Tagen zu den Kriegern gestoßen war, eine andere Bedeutung: der Analverkehr, den die Soldaten an den gefangenen Scylvendi so sichtbar vollzogen, ihre spöttischen Botschaften, sogar ihre so provokant aufgestellten Latrinen – all das sollte die Steppenbewohner zum Angriff verführen.
»Warum?«, fragte Cnaiür unvermittelt. »Warum mag Conphas so viele Vorräte dabei haben?«
Xunnurit schnaubte kurz auf. »Na, weil wir in der Steppe sind! Hier gibt’s eben kein Futter.«
»Nein. Weil er einen Krieg erwartet, bei dem es auf Geduld ankommt.«
»Genau!«, tönte Xunnurit. »Er will abwarten, bis der Hunger die Stämme zwingt, sich in alle Winde zu zerstreuen. Deshalb müssen wir ihn sofort angreifen!«
»Bis wir uns in alle Winde zerstreuen?«, rief Cnaiür und war bestürzt, dass seine Einsicht so leicht ins Gegenteil verkehrt werden konnte. »Aber nein! Er will warten, bis Hunger oder Stolz die Stämme zum Angriff zwingt.«
Diese kühne Behauptung bewog die Übrigen zu manchem Einwurf. Xunnurit lachte mit der Bekümmerung eines Menschen, der Einfalt mit Weisheit verwechselt hat. »Ihr Utemot wohnt weit weg vom Kaiserreich«, sagte er, und es klang, als müsste er einen Schwachkopf beruhigen. »Deshalb ist es vielleicht kein Wunder, dass ihr von der kaiserlichen Politik keinen Schimmer habt. Woher solltet ihr wissen, dass Ikurei Conphas ständig an Format gewonnen hat, während der Ruhm seines Onkels, des Kaisers, allenfalls stagniert? Du redest, als wäre Conphas als Eroberer entsandt worden – dabei wurde er geschickt, um hier zu sterben!«
»Soll das ein Witz sein?«,
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