Schattenfall
Wirkungsmacht geworden.
Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
STEPPE JIÜNATI, FRÜHSOMMER 4110
Cnaiür von Skiötha fand den König der Stämme und die anderen Männer dicht an dicht auf einer Anhöhe versammelt, die einen Panoramablick auf das Hethanta-Gebirge und auf das Heer der Nansur gewährte, das am Fuß der Berge sein Lager aufgeschlagen hatte. Er brachte seinen Grauschimmel zum Stehen und beobachtete die Gruppe aus der Entfernung. Dabei pochte ihm das Herz so schwer, als sei sein Blut zähflüssig geworden. Einen Moment lang fühlte er sich wie ein Junge, den die älteren Geschwister und ihre herablassenden Freunde ausgeschlossen haben, und rechnete fast damit, der Wind werde ihm Spötteleien zutragen.
Warum demütigen sie mich bloß so?
Doch er war kein Kind, sondern der mit allen Wassern gewaschene Häuptling der Utemot, ein erfahrener, über fünfundvierzig Jahre alter Krieger der Scylvendi. Er besaß acht Frauen, dreiundzwanzig Sklaven und mehr als dreihundert Rinder und hatte siebenunddreißig Söhne, von denen neunzehn als reinblütig gelten konnten. Seine Arme waren voller Swazond – ritueller Narben, die davon zeugten, dass er schon mehr als zweihundert Feinden den Garaus gemacht hatte. Sein Name Cnaiür wies ihn als einen aus, der Pferden den Willen und Menschen das Leben nimmt.
Ich könnte jeden von ihnen töten, ja zu Brei schlagen, und doch kommen sie mir auf diese Weise! Was hab ich denn getan?
Doch er kannte die Antwort – wie jeder Mörder. Nicht seine Schande war der Skandal, sondern die Anmaßung der anderen, darüber Bescheid zu wissen.
Die Sonne war zwischen den schneebedeckten Gipfeln aufgegangen und hatte die Häuptlingsversammlung in so schwach wie golden schimmerndes Frühlicht getaucht. Die Männer wirkten wie Krieger aus verschiedenen Völkern und Zeitaltern, obwohl alle, die bei der Schlacht von Zirkirta dabeigewesen waren, die Dornhelme trugen, die sie den Kianene damals abgenommen hatten. Einige liefen mit alten, vielfach geschuppten Brust- und Rückenpanzern herum, andere mit Kettenhemden und Harnischen verschiedener Machart – mit Dingen also, die sie vor langer Zeit toten Prinzen und Edelleuten der Inrithi abgezogen hatten. Nur ihre narbigen Arme, ihre versteinerten Gesichter und ihr langes schwarzes Haar wiesen sie als Scylvendi aus.
Xunnurit, der gewählte König der Stämme, saß in der Mitte, hatte den linken Arm gebieterisch auf den Oberschenkel gestützt und wies mit dem rechten in die Ferne. Wie auf seinen Befehl hin hob der Reiter neben ihm seinen kerbenreichen, zum Halbmond gespannten Bogen. Cnaiür sah einen Birkenpfeil durch die Luft schnellen und auf halber Strecke zum Fluss im hohen Gras verschwinden. Er begriff, dass sie Entfernungen maßen. Das konnte nur bedeuten, dass sie einen Angriff planten.
Ohne mich? Konnten sie ihn denn einfach vergessen haben?
Fluchend trieb Cnaiür sein Pferd an und ritt auf die Versammelten zu. Dabei schaute er die ganze Zeit nach Osten, um sich die Schmach ihrer süffisanten Blicke zu ersparen. Der Kiyuth mäandrierte durchs Tal – ein schwarzes Band, das nur bei flachen Stromschnellen wie mit Zuckerguss überzogen schien. Selbst aus der Entfernung sah Cnaiür Soldaten des Kaiserlichen Heers an den Ufern des Flusses wimmeln und die letzten Pappeln fällen und mit angeschirrten Pferden wegschleppen. Noch eine Meile weiter lag hinter Schanzwerk und einer Palisade das kaiserliche Lager, ein großes Rechteck aus unzähligen Zelten und Wagen. Und hinter dem Lager erhob sich der Berg, den die Geschichtssänger Sakthuta nannten, also »Die beiden Stiere«.
Vor drei Tagen hatte ihn dieser Anblick noch erstaunt und entsetzt. Schon dass die Nansur ins Gebiet der Scylvendi eingedrungen waren, war ein Skandal, doch nun setzten sie obendrein noch Pfosten in den Boden und warfen Wälle auf!
Inzwischen aber hatte er dabei nur noch ein ungutes Gefühl.
Er fletschte die Zähne und ritt mitten unter seine Häuptlingskollegen.
»Xunnurit!«, grollte er. »Warum bin ich nicht zu dieser Versammlung geladen worden?«
Der König der Stämme fluchte und zerrte seinen Rotschimmel herum, um dem Ankömmling ins Auge zu sehen. Ein Morgenlüftchen zauste die Fuchspelzbordüre seines Dornhelms. Er musterte Cnaiür mit unverblümter Verachtung und sagte: »Du wurdest geladen wie alle anderen auch, Utemot.«
Cnaiür hatte Xunnurit erst fünf Tage zuvor kennengelernt, als er gerade mit seinen Kriegern angelangt war. Sofort
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