Schattenfall
vergangen, und seit fast acht Jahren hatte Cnaiür nicht mehr so viele Männer seines Volkes versammelt gesehen. Die Häuptlinge waren mit großem Gefolge unterwegs, das im Umkreis von einer Meile die Hänge und flachen Höhen bevölkerte. Hinter einem Dickicht senkrechter Lanzen ragten Hunderte von Standarten aus Pferdeleder auf und zeigten schon aus der Entfernung, wo welcher Stamm und welcher Bund versammelt war.
So viele Menschen!
Ob Ikurei Conphas begriff, was er getan hatte? Traditionell waren die Scylvendi in viele kriegerische Stämme zersplittert und verbrachten (von den üblichen Grenzüberfällen auf das Kaiserreich abgesehen) die meiste Zeit damit, sich gegenseitig umzubringen. Ihre Vorliebe für Fehden und allseits verlustreiche Dauerscharmützel war das mächtigste Bollwerk des Reichs gegen die Scylvendi – mächtiger noch als das gewaltig aufragende Hethanta-Gebirge. Durch seinen Einmarsch hatte Conphas das Steppenvolk mit einem Schlag geeint und Nansur der größten Gefahr seit bald dreißig Jahren ausgesetzt.
Warum hatte er das riskiert? Aus keinem ersichtlichen Grund hatte Ikurei Xerius III. Wohl und Wehe des Reichs in die Hände seines frühreifen Neffen gelegt. Welche Versprechungen mochte Conphas ihm gemacht und welche Umstände mochten Xerius zu seinem Schritt veranlasst haben?
Die Dinge lagen ganz anders als es schien – davon war Cnaiür überzeugt. Als er nun aber die Heerscharen bewaffneter Reiter musterte, sah er sich doch genötigt, seine früheren Bedenken zu bereuen. Wohin er auch schaute, ritten unerbittliche Krieger, die sich Felle auf die runden Schilde genagelt und ihren Pferden Satteldecken, in die erbeutete Münzen aus Nansur und Kian genäht waren, übergeworfen hatten. Abertausende von Scylvendi – durch grausame Dürren und endlose Fehden verroht – waren geeint wie in legendärer Vorzeit. Worauf konnte Conphas da noch hoffen?
Vom Fuß des Gebirges ertönten die Hörner der Nansur und erschreckten gleichermaßen Pferde und Reiter. Alle schauten zu dem langgestreckten Hügelzug hinüber, der ihnen den Blick ins Tal verwehrte. Cnaiürs Grauschimmel schnaubte und tänzelte und brachte dabei die Skalps zum Schwingen, mit denen sein Zaumzeug geschmückt war.
»Bald ist es soweit«, murmelte der Utemot und beruhigte sein nervös gewordenes Pferd mit festem Zügelgriff. »Bald geht der Wahnwitz los.«
Seit jeher empfand Cnaiür die Stunden vor der Schlacht als unerträglich und war im Nachhinein immer wieder erstaunt, sie erneut ausgehalten zu haben. Mitunter schwindelte ihm bei der Vorstellung, welch ungeheure Dinge sich gleich ereignen würden, und er war fassungslos wie jemand, der nur knapp einem tödlichen Sturz entgangen ist. Doch solche Anwandlungen waren rasch vorbei. Im Großen und Ganzen vergingen diese Stunden wie alle anderen – auch wenn er sich vielleicht mehr Sorgen machte, dabei aber ab und an von kollektiven Hassausbrüchen oder Ehrfurchtsbekundungen unterbrochen wurde. Doch im Übrigen war es so öde wie sonst. Im Großen und Ganzen musste er sich eben vor Augen halten, dass der reine Irrsinn bevorstand.
Cnaiür war der Erste seines Stammes, der die Kuppe des Hügelzugs erreichte. Zwischen zwei wie Schneidezähne geformten Bergen ging die Sonne lodernd auf und blendete ihn. Es dauerte ein wenig, bis Cnaiür in der Ferne die Linien des kaiserlichen Heeres ausmachen konnte. Schlachtreihen von Fußsoldaten hatten auf dem freien Gelände zwischen dem Fluss und dem befestigten Lager der Nansur einen breiten, in mehrere Abschnitte geteilten Streifen gebildet. Auf den zerklüfteten Hängen im Vorfeld des Heeres patrouillierten berittene Kämpfer, die sofort jeden Scylvendi angreifen würden, der versuchte, den Kiyuth zu durchqueren. Als wollten sie ihren alten Feind grüßen, tönten die Hörner der Nansur wiederum durch die raue Morgenluft. Das ganze Heer der Nansur stieß einen lauten Schrei aus; dann war das hohle Trommeln von Schwertern zu hören, die auf Schilde schlugen.
Während die anderen Stämme sich auf dem Höhenzug sammelten, beobachtete Cnaiür mit gegen die Sonne schützend erhobener Hand die Nansur. Dass sie sich mehr in der Mitte des offenen Geländes aufhielten und das Ostufer des Flusses nur durch Patrouillen sicherten, überraschte ihn nicht, doch er nahm an, Xunnurit und die anderen waren nun hitzig mit der Änderung ihrer Pläne beschäftigt. Er versuchte, die Reihen der Soldaten zu zählen (die Truppen schienen ungewöhnlich tief
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