Schattenfall
waren die beiden einander herzlich unsympathisch gewesen – wie zwei Männer, die um dieselbe Schönheit freien. Cnaiür war überzeugt, dass Xunnurits Verachtung von den böswilligen Gerüchten über den lang zurückliegenden Tod seines Vaters herrührte. Worin allerdings seine eigene Abneigung gründete, konnte er sich nicht erklären. Vielleicht war sie nur eine Reaktion auf Xunnurits Ablehnung. Vielleicht lag es aber auch an der Seidenbordüre des Schaffellwamses, das der König der Stämme trug. Oder an dem eitlen Lächeln, das sich in seinen Mundwinkeln eingenistet hatte.
»Wir sollten nicht angreifen«, sagte Cnaiür geradeheraus. »Das wäre kindisch und dumm.«
Eine Dunstglocke kollektiver Missbilligung trübte die reine Morgenluft. Die anderen Häuptlinge musterten Cnaiür mit unbewegter Miene. Trotz der Gerüchte, von denen sie zweifellos gehört hatten, nötigten ihnen seine vielfach vernarbten Arme widerwilligen Respekt ab. Nicht einer von ihnen – das wusste Cnaiür – hatte auch nur halb so viele Feinde getötet wie er.
Xunnurit beugte sich vor und spuckte als Zeichen seiner Verachtung ins Gras. »Dumm? Die Nansur beflecken unseren heiligen Boden, Utemot. Was soll ich deiner Meinung nach da tun? Verhandeln? Aufgeben und Conphas Tribut leisten?«
Cnaiür überlegte, ob er den König selbst oder nur seinen Plan attackieren sollte. »Nein«, gab er zurück und entschied sich gegen den Angriff auf den Oberhäuptling und für eine kluge Argumentation. »Ich würde abwarten. Wir haben Ikurei Conphas…« – er hob seine fleischige Rechte und ballte sie zur Faust – »… in der Falle. Seine Pferde brauchen nahrhaftes Futter, unsere nicht. Seine Männer sind es gewohnt, ein Dach überm Kopf zu haben, in Kissen zu ruhen, Wein zu trinken und sich mit leichten Mädchen zu vergnügen, während wir im Sattel schlafen und zum Überleben nur dann und wann unseren Pferden ein wenig Blut abzapfen müssen. Glaubt mir, demnächst keilt den Nansur das Fohlen im Herzen, und durch ihren Unterleib spurt der Schakal. Dann merken sie, dass es für sie hier nur Angst und Hunger gibt, und fühlen sich hinter ihren Erd- und Holzbefestigungen nicht mehr sicher, sondern gefangen. Und bald wird die Verzweiflung sie dann an einen Ort unserer Wahl treiben!«
Ein leises Murmeln lief durch die Häuptlinge, und Cnaiür blickte von einem Mann zum anderen. Einige der Versammelten waren jung und mordlustig, die meisten aber hatten viele Feldzüge mitgemacht, waren – wie Cnaiür – schon älter und entsprechend klug und abgeklärt und besaßen vom Wetter gegerbte Gesichter. Sie hatten die vielen Anwandlungen jugendlicher Ungeduld überlebt, waren aber noch auf der Höhe ihrer Körperkraft. Die Klugheit seiner Worte entging ihnen nicht.
Xunnurit aber wirkte unbeeindruckt. »Immer hübsch taktisch vorgehen, was, Utemot? Sag mir, Cnaiür von Skiötha: Wenn du in dein Zelt kommen und auf Männer stoßen würdest, die sich an deinen Frauen vergehen – zu welcher Taktik würdest du greifen? Würdest du dich vor dem Dorf in einen Hinterhalt legen, weil du so die besten Siegeschancen hast? Würdest du also abwarten, bis die Angreifer Herd und Schoß geschändet haben?«
Cnaiür lächelte spöttisch und bemerkte erst jetzt, dass Xunnurit an der linken Hand zwei Finger fehlten. Ob er überhaupt den Bogen spannen konnte? »Die Ausläufer des Hethanta-Gebirges sind kaum mit meinem Zelt vergleichbar.«
»Tatsächlich nicht? Ist das etwa die Weisheit der Geschichtssänger?«
Es war nicht so sehr die Gerissenheit seines Gegenübers, die Cnaiür tief erschreckte, sondern eher die Erkenntnis, ihn unterschätzt zu haben.
Xunnurits Augen leuchteten triumphierend auf. »Nein, die Geschichtssänger sagen, die Schlacht sei unser Herd, die Erde unser Schoß und der Himmel unser Zelt. Conphas hat uns angegriffen, und sein Angriff unterscheidet sich nicht wesentlich von einem Missbrauch unserer Frauen oder einer Einäscherung unseres Herds. Wir wurden angegriffen, geschändet und erniedrigt und befinden uns in einer Situation, die es nicht mehr erlaubt, es bei taktischen Überlegungen zu belassen, Utemot.«
»Und was war bei unserem Sieg über die Fanim in Zirkirta?«, fragte Cnaiür. Die meisten Versammelten waren acht Jahre zuvor dabeigewesen, damals, als er Hasjinnet, den Oberbefehlshaber der Kianene, persönlich vom Pferd geschlagen hatte.
»Was soll da gewesen sein?«
»Wie lange haben wir uns damals vor den anrückenden Kianene
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