Schattenfall
Scylvendi ist das anders. Sie sind von ihrer Tradition besessen. Während wir riesige Steinbauten errichten, um die Vergänglichkeit zu besiegen, gerät ihnen die mündliche Überlieferung ihrer Gefechte zum Monument, und die Erzählungen ihrer Kriege haben für sie Tempelcharakter.«
Diese Einschätzung ärgerte Cnaiür mächtig. Wer waren diese Leute? Der Kerl, der das große Wort führte, war sicher aus hochadligem Haus.
»Das ist recht interessant«, meinte Martemus, »erklärt aber nicht, woher Ihr wusstet, dass Ihr sie besiegen würdet.«
»Jetzt sei nicht penetrant. Ich hasse es, wenn meine Offiziere mich piesacken. Erst stellst du unverschämte Fragen, und dann reichen dir meine Antworten nicht.«
»Bitte entschuldigt, Herr Oberbefehlshaber. Ich habe Euch nicht dumm kommen wollen. Ihr habt mich für meine Direktheit mal gelobt und mal gezüchtigt, und…«
»Ach, Martemus… immer dieses Affentheater vom sittsamen General aus der Provinz, dessen einziger Ehrgeiz die gehorsame Pflichterfüllung ist! Ich kenne dich besser als du denkst und hab längst gemerkt, wie interessiert du bist, wenn’s um Staatsangelegenheiten geht. Und gerade jetzt sehe ich blanke Ruhmsucht in deinen Augen.«
Cnaiür hatte das Gefühl, ihm läge ein Felsblock auf der Brust. Er konnte nicht atmen. Das war wirklich er, er – Ikurei Conphas!
»Das leugne ich nicht. Aber ich schwöre, dass ich Eure Autorität nicht im Geringsten in Zweifel ziehen wollte. Es ist nur so, dass… dass…«
Diese Worte ließen beide Männer anhalten. Cnaiür konnte sie durch seine beinahe geschlossenen Lider als berittene Schemen erkennen und atmete ganz flach.
»Nun, Martemus, wie ist es denn nun?«
»Den ganzen Feldzug über habe ich den Mund gehalten, obwohl mir die Aktion als reiner Wahnsinn erschien und…«
»Und was?«
»… und mein Glaube an Euch eine Zeitlang ins Wanken geriet.«
»Und doch hast du nichts gesagt oder gefragt. Warum nicht?«
Cnaiür wollte sich etwas aufrichten, schaffte es aber nicht. Die körperlos wirkenden Stimmen klangen in seinen Ohren wie reiner Hohn. Ihn umbringen – das musste er, unbedingt!
»Weil ich Angst hatte, Herr Oberbefehlshaber. Man steigt nicht wie ich von ganz unten auf, wenn man nicht beizeiten lernt, dass es extrem gefährlich ist, Entscheidungen von Vorgesetzten in Frage zu stellen – vor allem, wenn sie verzweifelt sind.«
Lachen. »Und jetzt, da es ringsum so aussieht…« – der schemenhafte Conphas wies über das mit Leichen übersäte Schlachtfeld – »… vermutest du, ich sei nicht länger verzweifelt und du könntest ein paar von deinen bohrenden Fragen riskieren.«
Plötzlich wurde Cnaiür sich seiner Lage und der Situation ringsum erst wirklich bewusst. Es war, als sehe er sich aus großer Entfernung – einen Mann, der mit knapper Not einen flachen Hang hinaufgekrochen ist und neben einem Pferdekadaver inmitten einer unendlichen Menge von Leichen liegt. Selbst diese Bilder lösten bei ihm Selbstvorwürfe aus. Was waren denn das schon wieder für Überlegungen? Warum musste er immer einen Gedanken zu viel haben? Warum musste er überhaupt ständig denken?
Bring ihn um!
»Genau«, antwortete Martemus.
Spring die zwei an! Erschrick ihre Pferde und schneid den beiden die Kehle durch!
»Soll ich dich verwöhnen?«, fragte Conphas. »Soll ich dich noch einen Schritt mehr zum Gipfel machen lassen, Martemus?«
»Auf meine Loyalität und Verschwiegenheit, Herr Oberbefehlshaber, könnt Ihr Euch unumschränkt verlassen.«
»Davon war ich ohnehin ausgegangen, aber danke für die Bestätigung… Was würdest du dazu sagen, wenn diese Schlacht, dieser glorreiche Sieg nur das erste Gefecht des Heiligen Kriegs wäre?«
»Meint ihr den Heiligen Krieg des Tempelvorstehers?«
»Ob es Maithanets Krieg ist, ist die zentrale Frage.«
Na los! Räch dich und dein Volk!
»Aber was ist mit…«
»Ich fürchte, es wäre unverantwortlich, mehr zu verraten, Martemus. Vielleicht bald, aber nicht jetzt. So großartig, ja göttlich dieser Triumph auch ist – er wird sich im Vergleich zu dem, was kommt, winzig ausnehmen. Bald wird das ganze Gebiet der Drei Meere meinen Namen feiern, und dann… Nun, deiner Art nach bist du mehr einfacher Soldat als Offizier. Darum begreifst du, dass Kommandeure das Unwissen ihrer Untergebenen oft genauso brauchen wie ihr Wissen.«
»Verstehe. Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen.«
»Womit?«
»Damit, dass Eure Antworten meine Neugier eher anstacheln als
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