Schattenfall
galt. Bei den Scylvendi rief die Erwähnung des »Kaisers hinter den Bergen« nur gräuliche Bilder hervor: heimtückisch dreinblickende Priester, die vor dem unseligen Stoßzahn im Staub kriechen; Hexenmeister in eng geschnürten Klamotten, die überirdische Obszönitäten vom Stapel lassen, während stark geschminkte, gepuderte und parfümierte Höflinge ihre weichen Körper in den Dienst irdischer Obszönitäten stellen… Und von solchen Männern waren sie besiegt worden! Von Ackerbauern, Schreiberlingen und Kerlen, die miteinander ins Bett stiegen!
Ein plötzlicher Schmerz in der Kehle verschlug ihm beinahe den Atem.
Er dachte an Bannut und den Verrat seiner Stammesbrüder und wühlte die schmerzenden Hände wie Anker ins Gras, als wäre er so schwach und leer, dass ihn der nächste Windstoß in den blanken Himmel wehen könnte. Als seine Verzweiflung sich in einem Schrei Luft machen wollte, biss er die Zähne zusammen und zwang den Ausbruch seines Leids zu einem Zischen herab. Er rang stöhnend nach Atem und schüttelte den Kopf, obwohl ihm das furchtbare Schmerzen bereitete. Nein!
Dann schluchzte er auf und weinte.
Heulsuse…
Er sah Bannut vor sich, wie er röchelte und milchiges Blut spuckte.
Ich hab gesehen, wie du ihn angeschaut hast. Ich weiß, dass ihr zusammen gewesen seid!
»Nein!«, rief Cnaiür, doch sein Hass ließ ihn im Stich.
So viele Jahre hatte er sich über ihr Schweigen den Kopf zerbrochen, hatte sich vom unausgesprochenen Tadel in ihren Augen verfolgt gefühlt, sich ob seines Argwohns für verrückt gehalten, sich seiner Ängste wegen geschämt und doch immer wieder versucht, ihre versteckten Gedanken zu enträtseln. Wie oft mochten sie ihn hinter seinem Rücken verleumdet haben? Wie oft hatte er, von Gelächter angezogen, ein Zelt betreten und war nur auf verschlossene Lippen und freche Blicke gestoßen? Die ganze Zeit hatten sie… Er presste die Arme an die Brust.
Nein!
Er drückte die Lider fest zu, um seine Tränen loszuwerden, und rammte die verschorfte Faust immer fester in den Boden, als würde er im Ofen ein Feuer schüren. Vor seinem inneren Auge tauchte das Gesicht aus einer seit dreißig Jahren vergangenen Zeit wieder auf und strahlte eine dämonische Ruhe aus.
»Wie sehr du mich beanspruchst!«, zischte er in sich hinein. »Du lädst mir eine Last nach der ande…«
Ein plötzliches Erschrecken ließ ihn schweigen: Der Wind trug ihm Stimmen zu!
Er lag reglos da, hatte die Wimpern nur so weit geöffnet, dass er die Umgebung schemenhaft erkennen konnte, und lauschte. Die Männer sprachen Scheyisch, doch was sie sagten, war nicht zu verstehen.
Strichen noch immer Plünderer über das Schlachtfeld?
Du Hasenherz! Spring auf und stirb!
Der Wind ließ nach, und die Stimmen wurden lauter. Er hörte Hufschlag und das rhythmische Klacken von Zaumzeug. Das waren mindestens zwei Mann zu Pferd. Ihr adliger Ton legte nahe, dass sie Offiziere waren. Sie kamen näher, doch aus welcher Richtung? Er unterdrückte das wahnwitzige Bedürfnis, sich aufzusetzen und sich umzusehen.
»Seit den Tagen von Kyraneas leben die Scylvendi in dieser Steppe«, sagte die vornehmere Stimme. »Sie sind unnachgiebig und geduldig wie das Meer. Und unverändert! Ganze Völker sind auf- und abgestiegen, haben Blüte und Verfall erlebt, doch die Scylvendi sind sich stets gleichgeblieben. Ich habe mich lange mit ihnen befasst, Martemus! Ich habe mich durch jeden Bericht – ob aktuell oder nicht – gequält, den ich über sie auftreiben konnte, und sogar meine Kundschafter in die Bibliothek der Sareot einbrechen lassen! Wirklich, in Iothiah war das. Aber sie haben nichts gefunden, denn die Fanim hatten den Bau verfallen lassen. Doch jetzt kommt’s: Jede Darstellung, auch die älteste, die ich über die Scylvendi gelesen habe, hätte gestern geschrieben sein können. Seit Jahrtausenden, Martemus, haben sie sich nicht verändert. Denk dir ihre Steigbügel und ihre eisernen Waffen weg, und sie wären nicht von denen zu unterscheiden, die Mehtsonc vor zweitausend Jahren zerstört und tausend Jahre später Cenei geplündert haben! Der Philosoph Ajencis hat völlig recht: Die Scylvendi sind ein Volk ohne Geschichte.«
»Aber das ist doch bei allen schriftlosen Völkern so, oder?«, gab der andere Mann, Martemus also, zu bedenken.
»Selbst schriftlose Völker wandeln sich im Lauf der Jahrhunderte. Sie wandern. Sie vergessen alte Götter und entdecken neue. Sogar ihre Sprache verändert sich. Doch bei den
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