Schattenfehde - Verschwoerung gegen Hessen und Kurmainz
einem war er plötzlich überzeugt: dass Petz recht hatte. Dass er erkennen musste. Er konnte gar nicht anders.
Als er so einige Minuten verweilt und überlegt hatte, stand sein Entschluss fest. Er musste gehen, seinen Weg weiter beschreiten und seine Bestimmung finden. Es gab kein Zurück mehr. Er war fest entschlossen, in dieser Nacht das Geheimnis des Lederbeutels und des Gedichts zu ergründen, auch wenn er vielleicht Gefahr lief, sich dabei zu versündigen.
Nachdem die gegnerischen Truppen zunächst die linksrheinischen Besitztümer Diethers von Ysenburg überrannt und geplündert hatten, sollte das Gleiche auch auf der rechten Seite des Rheins geschehen, um dann gegen Mainz zu ziehen. Doch dann kam die heiligste aller christlichen Festzeiten und gebot wie von allein dem Kampf Einhalt. Es gab keinerlei Absprache darüber zwischen den erbitterten Gegnern Ysenburg und Nassau, wie es sonst auch keinerlei Gespräche oder Verhandlungen zwischen ihnen gab. Doch wie auf ein übergeordnetes Zeichen hin ließen beide kämpfenden Parteien die Waffen ruhen und hielten sich zumindest in dieser heiligen Zeit an das christliche Gebot, nicht zu töten. Und so verband beide Seiten für kurze Dauer ein trügerischer weihnachtlicher Friede. Niemand in den Lagern oder auf den Burgen beider Seiten ahnte, dass sich in einiger Entfernung von Mainz etwas zutrug, was den Lauf der Geschichte verändern würde. Ja, vielleicht sogar noch mehr als nur das.
Berthold war von seinem nächtlichen Spaziergang durch die tief verschneite Landschaft der Gemarkung Niddatal ins Kloster Ilbenstadt zurückgekehrt. Liturgische Gesänge und monotone Gebete durchzogen die Luft, als er – ganz außer Atem vom anstrengenden Aufstieg den Klosterberg hinauf – wieder im Klosterhof ankam und sich dann in seine Kammer begab. In der vergangenen Nacht hatte er in seinen Träumen wieder den Schwan gesehen, der auf der versilberten Oberfläche eines tannenumsäumten Sees inmitten hügeliger Waldungen feine Wellen in das Wasser schnitt. Ganz sanft war er näher gekommen, während Berthold auf einem warmen Fels am Ufer saß. Dann hatte der Schwan vor ihm angehalten. Er trieb im seichten Wasser und sprach zu ihm:
„Braue, was du brauen musst,
Sieden muss das Eis,
Schütte es in einem Guss,
Nur so erkennt dein Geist.
Erst Feuer, kälter, kalt wie Schnee,
Dann in dich selbst, ganz tief hinein,
Leben muss es, wirken, ziehen,
In dir sein.
Ruhe sanft und atme nicht,
Der dünne Faden reißt,
Es grüßt die dunkle Welt in Licht,
Nur so erkennt dein Geist.“
Dann schien der Schwan zu lächeln, war umgekehrt und mit vier, fünf kräftigen Schlägen seiner weiß gefiederten Schwingen sanft, aber unbeirrbar aus dem Wasser gestiegen, höher und höher. Doch dann kam er zurück. Berthold saß noch immer ruhig und tief berührt von den Worten und der Eleganz des weißen Vogels auf dem warmen Fels und sah gebannt zum Himmel. Der Schwan steuerte direkt auf Berthold zu. Als er ihn fast erreicht hatte, zogen sich seine Schwingen plötzlich zusammen. Das helle Federkleid kräuselte sich, wurde immer lichter und schließlich ganz durchsichtig. In einem leichten Leuchten verwandelte sich der Schwan in ein feines Tuch, das aus fast unsichtbaren Fäden gesponnen schien und federleicht aus der Höhe herabschwebte. Es schlängelte und schmiegte sich um die Luft, umarmte sie verspielt, spannte sich mal auf oder warf sich in leisen Windungen zu seltsamen Figuren, wie sie nur der Zufall malen konnte. Und immer, wenn sich das Tuch aufspannte und größere Flächen wellig sichtbar wurden, glomm und schien ein Vogel aus ihm heraus, wie ein Wappen. Der Schatten des Vogels ging mit dem Tuch langsam zu Boden. Die Konturen eines schwarzen Adlers, der einen schwarz-weißen Schild vor der Brust trug, sanken vor Bertholds Augen gemächlich herab. Er kannte das Wappen nicht, hatte es noch nie gesehen. Berthold wollte das Tuch auffangen, doch es zerfiel in seinen Händen zu glühendem Staub. Die Luft zog sich in einem verblassenden, immer schwächer werdenden Wirbel zusammen und verglomm friedlich in einem Punkt wie ein sterbendes Glühwürmchen. Dann war er erwacht.
Berthold setzte sich an den Tisch in seiner Kammer. Er vermisste Petz. Es wäre ihm wohler gewesen, wenn er den Freund bei sich gehabt hätte, aber Petz war fort und nun war es an ihm selbst, eine Entscheidung zu treffen. Berthold hatte in der Nacht seines letzten Traums lange wach gesessen und in sich
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