Schattenfeuer
nach.
Er haßte die Biester, mußte sich beherrschen, um nicht die Waffe zu ziehen und auf das Tier zu schießen. Allein der Anblick einer Ratte genügte, um das Bild zu erschüttern, das er während der vergangenen neunzehn Jahre als amerikanischer Bürger und Polizist von sich selbst geschaffen hatte. Wenn er eine Ratte sah, vergaß er schlagartig all das, was in den vergangenen fast zwei Jahrzehnten zu einem Teil seines Wesens geworden war. Dann wurde er wieder zu dem Julio Verdad aus den Slums von Tijuana, fühlte sich zurückversetzt in einen Schuppen, der aus wurmstichigem Holz, Teerpappe und rostigen Blechteilen bestand. Wenn es beim Mietrecht nur auf die Anzahl der Bewohner ankam, so hätten die Ratten Anspruch auf den Schuppen erheben können, denn sie waren weitaus zahlreicher als die siebenköpfige Verdad-Familie.
Während Julio dem Tier nachsah, das aus dem Licht der Scheinwerfer durch den Rinnstein der Gasse floh, glaubte er zu spüren, wie sich seine gute und teure Kleidung in eine Jeans aus dritter Hand verwandelte, ein zerrissenes Hemd, in abgenutzte Sandalen. Er schauderte und war plötzlich wieder fünf Jahre alt, stand an einem heißen Tag im August im stickigen Schatten der Baracke in Tijuana, starrte voller Entsetzen auf die beiden Ratten, die in aller Seelenruhe am Hals seines vier Monate alten Bruders Ernesto knabberten. Alle anderen Mitglieder der Familie befanden sich draußen und saßen am Rande der staubigen Straße. Die Kinder spielten leise und tranken Wasser, und die Erwachsenen erfrischten sich mit dem Bier, das sie für wenig Geld von den beiden jungen Ladrones gekauft hatten, die in der vergangenen Nacht ins Lager der Brauerei eingebrochen waren. Der kleine Julio versuchte zu schreien, um Hilfe zu rufen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Die schwüle Augustluft schien zu einem dicken Knebel zu werden, der es ihm unmöglich machte, irgendein Wort zu formulieren. Die Ratten spürten seine Anwesenheit, wandten sich ihm frech zu, quiekten leise - und als er sich mutig in Bewegung setzte und nach ihnen trat, wichen sie nur widerstrebend zurück. Eine von ihnen stellte seine Tapferkeit auf die Probe, indem sie ihm in die linke Hand biß. Da konnte der kleine Julio endlich schreien. Wütend verfolgte er die Ratten, schrie noch immer, als seine Mutter eintraf, zusammen mit seiner ältesten Schwester Evalina. Doch für das Baby kam jede Hilfe zu spät.
Reese Hagerstrom -er kannte Julio lange genug, um zu wissen, wie sehr er Ratten verabscheute - legte ihm die breite Hand auf die Schulter. »Ich glaube, wir sollten Percy fünf Dollar geben und ihn auffordern, sich aus dem Staub zu machen«, sagte er, um seinen Partner abzulenken. »Er hat mit dieser Sache nichts zu tun, und ich bezweifle, ob er uns irgendeinen Hinweis geben könnte. Außerdem kann ich seinen Gestank nicht mehr ertragen.«
»In Ordnung«, erwiderte Julio. »Ich bin mit zwei fünfzig dabei.« Während Reese dem Betrunkenen einige Scheine in die Hand drückte, beobachtete Verdad, wie man die Tote aus dem großen Müllbehälter holte. Er versuchte, einen gewis sen Abstand zum Opfer zu wahren, sich einzureden, sie bestünde gar nicht aus Fleisch und Blut, sei überhaupt kein Mensch gewesen, mit Gefühlen, mit Hoffnungen und Wünschen. Aber es gelang ihm nicht so recht. Die Frau wirkte echt, und der Geruch des Blutes ließ sich nicht einfach verleugnen. Sie wurde auf ein Tuch gelegt, das man extra zu diesem Zweck auf dem Boden ausgebreitet hatte. Im Licht der Scheinwerfer machten die Fotografen einige weitere Aufnahmen, und Julio trat ein wenig näher heran. Die Tote war jung, Anfang zwanzig, schwarzhaarig, mit braunen Augen. Der Täter und die gefräßigen Ratten hatten sie übel zugerichtet, aber trotzdem glaubte Verdad, daß sie zumindest attraktiv gewesen war, wenn nicht sogar ausgesprochen hübsch. Sie trug nur einen Schuh. Wahrscheinlich befand sich der andere noch im Müllbehälter. Auf Julios Anweisung hin zogen zwei Männer Gummistiefel an, stülpten sich Atemmasken vors Gesicht und begannen mit einer gründlichen Suche im Abfall. Sie fanden die Handtasche der Toten, und Raubmord konnte ausgeschlossen werden, denn die Börse enthielt dreiundvierzig Dollar. Nach
den Angaben des Führerscheins war das Opfer Ernestina
Hernandez aus Santa Ana, vierundzwanzig Jahre alt.
Ernestina.
Julio schauderte einmal mehr. Die Ähnlichkeit des Namens mit dem seines vor vielen Jahren verstorbenen Bruders Ernesto ließ ihn
Weitere Kostenlose Bücher