Schattenfeuer
aufflammte, schien sich die Frau an der Wand auf gespenstische Art und Weise zu bewegen.
Julio hatte noch niemals zuvor etwas so Schreckliches gesehen, und doch gewann er sofort den Eindruck, daß der Täter nicht in einem Tobsuchtsanfall gehandelt hatte, sondern aus kühler Berechnung. Ganz offensichtlich war die Frau bereits tot gewesen, als sie gekreuzigt wurde, denn aus den Nagellöchern drang kein Blut. An der Kehle zeigte sich ein breiter Riß -offenbar die tödliche Wunde. Der Mörder hatte erhebliche Zeit darauf verwendet, sich Nägel und einen Hammer zu besorgen (der jetzt in einer Ecke des Zimmers lag), um sein makabres Werk zu vollenden. Der dicke Stift im Hals verhinderte, daß der Kopf des Leichnams nach vorn sank: Die Tote schien auf die Schlafzimmertür zu starren (eine entsetzliche Überraschung für Rachael Leben), und Klebeband hielt die Augen offen.
»Ich verstehe«, sagte Julio leise.
»Ja«, brummte Reese erschüttert.
Mulveck zwinkerte überrascht. Schweißperlen glänzten auf seiner bleichen Stirn, vielleicht nicht nur wegen der Sommerhitze. »Sie scherzen wohl. Sie behaupten, diesen... diesen Wahnsinn zu verstehen? Gibt es denn einen Grund dafür?«
Julio räusperte sich. »Ernestina und diese junge Frau wurden in erster Linie deshalb umgebracht, weil der Täter ihren Wagen brauchte. Doch als er feststellte, wie die Klienstad aussah, brachte er ihre Leiche hierher -als eine Art Botschaft.«
Mulveck strich sich einmal mehr nervös übers Haar. »Aber wenn der Psychopath plante, Mrs. Leben umzubringen wenn er es vor allen Dingen auf sie abgesehen hatte.. Warum wartete er dann nicht auf sie? Warum ließ er diese.. Nachricht für sie zurück?«
»Offenbar hatte der Mörder Grund zu der Annahme, daß sich Mrs. Leben nicht zu Hause aufhielt«, sagte Julio. »Vielleicht rief er sogar an.«
Er erinnerte sich an Rachael Lebens Unruhe bei ihrem Ge spräch im Leichenschauhaus. Julio Verdad fühlte sich nun in seiner Annahme bestärkt, daß sie etwas verbarg, daß sie sich fürchtete. Vermutlich hatte sie bereits gewußt, daß ihr Ge fahr drohte.
Aber vor was fürchtete sie sich, und warum wandte sie sich in diesem Zusammenhang nicht einfach an die Polizei? Was verbarg sie?
»Dem Mörder war klar, daß er keine Möglichkeit besaß, sich Rachael Leben sofort zu schnappen«, fuhr Julio fort. »Deshalb wollte er ihr mitteilen, daß sie später mit ihm rechnen konnte. Es kam ihm - oder ihnen -darauf an, ihr Angst einzujagen, sie in Panik zu bringen. Und als er sich die von ihm ermordete Klienstad genauer ansah, traf er eine Entscheidung.«
»Bitte?« Mulveck starrte ihn groß an. »Was meinen Sie damit?«
»Rebecca Klienstad hatte eine ausgesprochen gute Figur, mit großen Brüsten«, sagte Julio und deutete auf die gekreuzigte Frau. »Ebenso wie Rachael Leben. Von ihrer Statur her ähneln sie sich sehr.«
»Darüber hinaus hat Mrs. Leben fast die gleiche Haarfarbe«, warf Reese ein. »Kupferbraun.«
»Tizianrot«, fügte Julio hinzu. »Und obgleich Rebecca nicht ganz so attraktiv war wie Mrs. Leben, gibt es zwischen ihren Gesichtszügen und denen Rachaels gewisse Parallelen.«
Der Fotograf ließ die Kamera sinken und legte einen neuen Film ein.
Mulveck schüttelte den Kopf. »Wenn ich Sie richtig verstehe... Angenommen, Mrs. Leben wäre nach Hause zurückgekehrt, hätte das Schlafzimmer betreten und die Tote gesehen, die ihr ähnelt... Der Mörder wollte ihr zu verstehen geben, daß seine Absicht eigentlich darin bestand, sie an die Wand zu nageln.«
»Ja«, bestätigte Julio. »Ich glaube, das beschreibt seine Motive ziemlich genau.« Auch Reese nickte.
»Herr im Himmel«, entfuhr es Mulveck. »Der Täter muß Mrs. Leben mehr hassen als alles andere in der Welt. Wer auch immer er sein mag: Womit hat Mrs. Leben einen derartigen Haß in ihm geweckt? Was für Feinde hat sie?«
»Ausgesprochen gefährliche«, stellte Julio fest. »Mehr weiß ich noch nicht.«
Er zögerte kurz. »Und wenn wir Rachael nicht rasch finden, geht es ihr wahrscheinlich ebenfalls an den Kragen, im wahrsten Sinne des Wortes.« Er deutete auf den breiten Riß in der Kehle des Leichnams an der Wand.
Das Blitzlicht des Fotografen flackerte.
Und Rebecca Klienstad schien zusammenzuzucken.
11. Kapitel - Gespenstergeschichte
Als der rechte Vorderreifen platzte, nahm Ben Shadway kaum Gas weg. Seine Hände schlössen sich fester um das zitternde Lenkrad, und er brachte noch einen halben Block hinter sich. Der Mercedes
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