Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
losgefahren waren.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, eingemummt in eine nach Hund stinkende Wolldecke, die sie auf dem Rücksitz des kleinen Fords gefunden hatten. Müde starrte sie nach draußen in die Dunkelheit, beobachtete die vorbeiziehenden Begrenzungspfosten. Sie fragte sich, ob sie wohl an ihrem Ziel angelangen würden, ohne aufgehalten zu werden. Wolfgang hatte etwas von Autobahnräubern erzählt, einem Problem, das es auch in Schottland gab. Sich nachts auf die Autobahnen zu wagen war stets mit einem Risiko verbunden.
Natürlich wunderte sie sich auch darüber, wo sie eigentlich hinfuhren und welche Rolle sie dabei spielen sollte. Wolfgang, der mit übermüdetem Gesichtsausdruck am Steuer saß, hatte sich bisher dazu in mysteriöses Schweigen gehüllt.
Die Flucht war völlig glatt und problemlos verlaufen. Wolfgang hatte etwas Angst gehabt, ob die germanischen Wächterlinge der Harburger Pforte sie als Keltin einfach so passieren lassen würden, doch die hatten auf ihre Anwesenheit überhaupt nicht reagiert. Anschließend hatte Wolfgang sie zu dem Wagengeführt und ihr einen Stapel Klamotten in die Hand gedrückt, die er für ihre Flucht bereitgelegt hatte – Jeans und Sportschuhe, einen Kapuzenpulli und eine Daunenjacke, alles gebraucht und teilweise schon ziemlich abgetragen. Doch das kümmerte sie kaum, sie war froh, endlich aus ihren nassen Innenwelt-Kleidern zu kommen, die noch immer nach dem Moder des Elbwatts gerochen hatten. Anschließend hatte Wolfgang ihnen an einem Schnellimbiss ein Frühstück gekauft und sie dann zu einem Parkplatz gefahren, auf dem sie in unbequemem, eingezwängtem Halbschlaf den Tag verbracht hatten.
Nun befanden sie sich auf der A7 Richtung Süden, irgendwo zwischen Hamburg und Hannover. Auf den Verkehrsschildern standen Städte wie Hildesheim und Kassel, Fulda und Würzburg ausgeschrieben, Namen, die ihr nichts bedeuteten, mit denen sie nichts anfangen konnte.
»Du hast auf der Thingversammlung ein Buch erwähnt«, meinte Wolfgang ohne Einleitung.
Keelin sah zu ihm, doch der Jarl hielt seinen Blick weiter auf die Straße gerichtet. Es war schwer zu sagen, was in ihm vorging. Ob er noch immer vermutete, dass Derrien sie mit dem Buch nur deshalb beauftragt hatte, weil sie zu seinen engen Vertrauten gehört hatte?
»Ja«, antwortete sie schließlich. Es zu bestreiten ergab ohnehin nicht viel Sinn.
»Was für eine Art Buch war es?«
Die Frage schien nicht darauf hinzudeuten, dass Wolfgang sie weiterhin der Mithilfe am Mordversuch an seiner Freundin bezichtigen wollte. Deshalb fiel es ihr nicht schwer, eine Antwort darauf zu geben. »Es war ein großes Buch. Etwa so lang wie mein Unterarm, von der Ellenbeuge bis zu den ausgestreckten Fingerspitzen.« Sie hielt ihren Arm nach oben, um ihm die Größe anzudeuten, doch der Sachse sah nicht zu ihr. »Sein Einband bestand aus dunkelbraunem Leder, rau und rissig und ohne Aufschrift. Die Seiten waren aus altem Pergament, nachtschwarz eingefärbt und auf den ersten Blick genauso leer wie der Einband.Nur wenn man es genauer betrachtete, sah man die Schrift. Die Symbole waren eine Mischung aus Klauenzeichen und Schattenrunen, ihre Farbe war das Braun eingetrockneten Blutes.«
»Wie viele Seiten waren es?«, wollte Wolfgang wissen.
»Vielleicht fünfzig? Ich habe sie nicht gezählt.«
Der Sachse nickte kurz. Eine Pause entstand, als er an einem weiteren Lastwagenkonvoi vorbeizog und den Fahrzeugen dabei misstrauische Blicke zuwarf. Erst als ihre Lichter weit hinter ihnen im Rückspiegel zurückgefallen waren, entspannte sich Wolfgang wieder. »Und was weißt du von seinem Inhalt?«
»Nicht viel«, gestand Keelin. »Die Pikten hatten angefangen, es zu übersetzen, aber ich musste abreisen, bevor sie damit weit gekommen wären. Immerhin konnten sie uns einen Überblick geben, welche Informationen sie darin vermuteten.«
Wolfgangs Augenlid zuckte nervös. »Und das wäre?«
»Nekromantie. Das könnte schon passen, wir hatten bei der Schlacht von Espeland tatsächlich mit Untoten zu tun.«
»Untote, verdammt. Das klingt großartig.«
»Ja.« Keelin starrte aus dem Fenster zurück in die Dunkelheit, doch vor ihren Augen sah sie die Bilder jenes Tages. Der grausige Anblick des Schlachtfeldes, über das die Heiler nach dem Ende der Kämpfe gestreift waren, auf der Suche nach Verletzten, die noch zu retten waren. Die zerschundenen, zerschlagenen Körper, die Schreie, die Todesangst. Einige von ihnen hatte Keelin selbst getötet,
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