Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
Arbeiter hatten ihre Lektion gelernt.
Als Mickey auf die Uhr über dem Eingang zur Kantine sah, stellte er fest, dass er viel zu früh war. Um halb zwölf sollte es losgehen, nun war es gerade einmal kurz nach halb elf, er würde warten müssen. Unbehelligt passierte er eines der Kühlhäuser, an dessen Außenmauer ein Wärmetauscher ein stetiges Summen von sich gab, ging an einem Lagerschuppen für Reste vorbei, in dem Hörner und Hufe aufbewahrt wurden. Er schreckte eine Rotte Ratten auf – echte Ratten, die sich in der Umgebung mehrerer großer Müllcontainer getummelt hatten – und erreichte schließlich das eindrucksvolle Hauptgebäude, eine große Fabrikhalle mit sägezahnartigem Dach und großen Schornsteinen.
Der Haupteingang war abgeschlossen, aber das war kein Problem. Die Arbeiter hatten mit Sicherheit dafür gesorgt, dass irgendwo zumindest ein Fenster, eine Hintertür offen stand. Heute Nacht waren es derer drei, zwei offene Fenster sowie ein Notausgang, an dem der Alarm deaktiviert war. Mickey schlüpfte nach innen, sah sich kurz in der Dunkelheit um und ging von innen zum Haupteingang. Er war tatsächlich der Erste.
Zu seiner Überraschung wartete er jedoch nicht lange. Schon kurz nach ihm tauchte Wayward auf, einer der drei Weisen des Clans. Er war ein alter Mann mit grauen Haaren und gebeugtem Rücken, ein kampferfahrener Rudelführer, der erst nach knapp zwanzig Jahren von einem jüngeren Rattenmenschen verdrängt worden war. Heute lebte er ein zurückgezogenes Leben, fernab des großen Krieges, beriet nur dann und wann die Queen oder die Rudelführer, wenn sie mit ihren Fragen zu ihm kamen.
Wayward nickte ihm unverbindlich zu, humpelte an seinem Stock an Mickey vorbei und setzte sich in eine düstere Ecke. Mickey fragte sich, ob er möglicherweise zu wenig mit ihm zu tun gehabt hatte und ob sich das nun vielleicht rächen würde. Offizielle Funktionen nahmen die Weisen zwar nur sehr selten ein – schließlich war die Queen die Anführerin des
Clans –, doch die Duelle waren ein Ereignis, zu dem die Queen nicht geladen war. War ein Streit zwischen zwei Ratten einmal so weit, dass es zu einer Duellforderung gekommen war, mussten dies die Männer unter sich ausmachen. Die Traditionen zielten darauf ab, durch das Duell eine schwärende Feindschaft schnell und effektiv aus dem Clan auszumerzen, bevor sie größeren Unfrieden verursachen konnte. Offenbar hatten die Begründer der Tradition befürchtet, eine anwesende Queen könnte den Streit auf weniger martialische Art und Weise zu lösen versuchen.
Es verging eine lange, dunkle Viertelstunde, bis der nächste Ankömmling eintraf. Es war Cannon, dem an diesem Tag die Aufgabe des Unparteiischen zufiel. Üblicherweise war es die Rolle Mickeys als ranghöchster Ratte des Clans, doch dies war heute aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Der Unparteiische würde einschreiten, wenn tatsächlich jemand grob gegen die Regeln verstieß oder wenn einer der Weisen den Wunsch dazu äußerte. Der Weise Storm hatte dies zweimal von Mickey gefordert, doch der war mittlerweile gestorben. Die anderen waren bisher stets still geblieben.
»Geht es dir gut?«, fragte Cannon.
Mickey nickte bloß zur Antwort. Ihm war nicht nach Reden zumute.
»Schöne Bescherung, was?« Als Cannon merkte, dass Mickey nicht an einem Gespräch interessiert war, steckte der Rudelanführer die Hände in die Taschen seines Trenchcoats, stellte sich etwas abseits und wartete schweigend.
Nach einer Weile traf auch Medicine Man ein. Er gesellte sich sofort zu Wayward, nachdem er Mickey kurz zugenickt hatte, und begann, sich leise mit ihm zu unterhalten. Schließlich tauchte Armstrong auf, zwanzig Minuten nach elf. Zu Mickeys Überraschung hatte er Shaka im Schlepptau, den schwarzen Jungen, den sie in Åndalsnes aufgegabelt hatten. Bei all den anderen Dingen, die seitdem geschehen waren, hatte Mickey schon gar nicht mehr an ihn gedacht. Armstrong knurrte ein kurzes »Hi«, bevor er sich wortlos zu den Wartenden gesellte. Der Junge starrte Mickey in die Augen. Als er sich sicher war, dass Mickey ihn sah, schüttelte der Junge kurz den Kopf. Mickey entschloss sich, in die Geste nichts hineinzudeuten.
Spider tauchte genau fünf Minuten vor halb zwölf auf. Er trug eine
weiße Jeans und einen hellen Mantel, unter dem er mit ziemlicher Sicherheit sein Katana verborgen hatte. Er begrüßte die einzelnen Anwesenden kurz mit Handschlag und redete mit jedem ein paar Sätze. Mickey ärgerte
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