Schattenfluegel
nicht ihr Vater! Er hatte kein Recht, ihr die Disco zu verbieten!
»Deine Mutter hat mich gebeten, auf dich aufzupassen, solange sie im Krankenhaus ist«, fuhr er fort. Er presste seine Lippen aufeinander, sodass sie ganz weiß wurden, und Kim wurde klar, dass auch er jetzt wütend war. Trotzdem sprach er immer noch ruhig und beherrscht, und das machte sie rasend.
»Ja«, schrie sie ihn unvermittelt an. »Und warum tust du das alles? Weil du Mom zurückhaben willst, richtig? Aber das hättest du dir früher überlegen sollen – als du in Amerika rumgelaufen bist, anstatt hier bei ihr zu sein, als sie dich am meisten gebraucht hat!« Kim hatte sich jetzt in Rage geredet. »Wenn du nicht diesen bescheuerten Indianer-Artikel geschrieben hättest, als Nina gestorben ist, wären Mom und du heute noch zusammen!«
Sigurd zuckte zusammen, aber der verschlossene Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich nicht. Dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen: »Du weißt nicht, was du sagst!«, sagte er. »Und jetzt sieh zu, dass du nach oben kommst!«
Kim begriff, dass es keinen Sinn hatte weiterzustreiten. Sie würde ihn nicht umstimmen können. Sie fuhr auf dem Absatz herum und stapfte wütend die Treppe rauf. Kurz bevor sie ihre Zimmertür hinter sich ins Schloss knallte, hörte sie Sigurd leise sagen: »Navajo! Es waren Navajo, keine Indianer!«
Ihr Herz klopfte heftig, als sie sich von innen gegen die Tür lehnte, und ihr Magen hatte sich vor lauter Wut zu einem winzigen Knoten zusammengezogen. Es fühlte sich an, als hätte sie glühende Kohlen verschluckt. Dann hörte sie, wie unten die Haustür aufgemacht wurde, und lief schnell zum Fenster, von wo aus sie auf den Gartenweg sehen konnte. Es dauerte einen Moment, aber dann sah sie Marie über den Weg zum Gartentor marschieren und die Straße hinunter verschwinden. Offenbar hatte Sigurd ihr gesagt, dass Kim nicht mitkommen würde.
Von wegen!
Kim starrte auf den Baum vor ihrem Fenster.
Was fiel Sigurd eigentlich ein, sie so zu bevormunden? Sie war kurz davor, ihre Mutter anzurufen und sich bei ihr zu beschweren, doch dann wurde ihr klar, wie kindisch das wirken würde. Sie war fünfzehn! Da konnte man ja wohl selbst entscheiden, wo und wie man seinen Samstagabend verbringen wollte. Und sie war sich sicher, Mom würde das auch so sehen.
Johanna wäre froh, dass Kim endlich anfing, ihre Angst vor Jungs zu überwinden!
Kim wandte sich vom Fenster ab und trat vor ihren Kleiderschrank. Sie zog beide Türen auf, sodass sie einen guten Überblick über den gesamten Inhalt hatte. Was sollte sie anziehen? Jeans. Klar. Eine von den teuren, die sie im letzten Urlaub mit Johanna zusammen gekauft hatte und die sie so superschlank aussehen ließ. Und ein Top. Aber nichts Bauchfreies, so wie Marie es angehabt hatte. Sie entschied sich für ein enges schwarzes, das an den Nähten mit Strasssteinen besetzt war. Eine gute Mischung aus edel und cool.
Ihre Haare wuschelte sie ordentlich durch und fasste sie im Nacken zu einem losen Pferdeschwanz zusammen, aus dem sie einige Strähnen herauszog und locker um ihre Schläfen kringelte. Jetzt noch die Schuhe mit den höchsten Absätzen, die sie besaß, und sie fand, sie konnte sich durchaus sehen lassen. Schwungvoll warf sie eine der beiden Schranktüren zu, drehte sich vor dem Spiegel und nickte zufrieden. Dann zog sie die Schuhe wieder aus. Sie musste an dem Baumstamm hinunterklettern, da waren Absätze eher hinderlich. Schuhe und Schlüsselbund stopfte sie in ihre Tasche und schlang sich den Riemen um die Schulter. Dann endlich öffnete sie das Fenster und lehnte sich hinaus.
Ganz schön hoch. War das früher auch so gewesen? Sie presste die Lippen zusammen und kletterte auf das Fensterbrett. Das Stück Plastikfolie, mit dem sie früher immer das Fenster am Zufallen gehindert hatte, war noch da und sie klemmte es zwischen Rahmen und Scheibe. Dann griff sie nach einem der Äste.
Oje!, schoss es ihr durch den Kopf, seit dem letzten Mal bist du mit Sicherheit ein ganzes Stück schwerer geworden. Ob der Ast ihr Gewicht hielt? Aber bevor sie anfangen konnte, sich ernsthaft Sorgen zu machen, hangelte sie sich schon an dem Ast entlang auf den Stamm zu, kletterte daran hinunter und stand im nächsten Moment unten auf dem Rasen. Im Dunkeln lief sie bis zur Straße und verschwand dann in Richtung Bushaltestelle.
Obwohl das Pascha nicht besonders groß war, war es schwer angesagt, besonders unter den Schülern der
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