Schattenfluegel
Albert-Einstein-Gesamtschule. Allerdings lag das auch daran, dass es in der Stadt keine andere Disco gab, die diese Bezeichnung überhaupt verdiente.
Während Kim sich an der Kasse ihren Stempel auf den Handrücken drücken ließ, schweifte ihr Blick schon über die Tanzfläche, die man von hier aus sehen konnte. Sabrina entdeckte sie sofort, aber von Marie war nichts zu sehen.
Sie stopfte sich das Wechselgeld in die Hosentasche, lächelte dem kaugummikauenden Mädchen an der Kasse noch einmal zu und betrat dann die Disco. Bunte Lichtflecken zuckten über die Tanzfläche, die Beats von einem Jason-Derulo-Song wummerten aus den Lautsprechern.
Als Kim an der Garderobe ihre Jacke abgab, wurde Sabrina auf sie aufmerksam und winkte ihr enthusiastisch zu. Kim überquerte die Tanzfläche und begrüßte ihre Freundin. »Wo ist Marie?«, schrie sie ihr ins Ohr, um die Musik zu übertönen.
Sabrina hatte sich einen ganz ähnlichen Lidstrich gemalt wie Marie. Als sie jetzt erstaunt die Augen aufriss, fiel Kim auf, dass sie dabei offenbar keine ganz ruhige Hand gehabt hatte. Am linken Auge wirkte die pechschwarze Linie ausgefranst und war etwas dicker als rechts. »Ich dachte, die wollte dich zu Hause abholen«, schrie Sabrina zurück. »War sie nicht bei dir?«
»Doch. Aber Sigurd hat sie weggeschickt.« Kim gelang nur ein schiefes Grinsen. »Er wollte nicht, dass ich mitgehe. Ich bin heimlich hier.«
Sabrina kam mit ihrem Mund so dicht wie möglich an Kims Ohr, denn nun begann ein neuer Song, und der war noch ein wenig lauter und durchdringender als der vorherige. »Du ungezogenes Mädchen!«, lachte sie und warf dann den Kopf in den Nacken. Ihre langen Haare glänzten in dem bunten Discolicht und funkelten in allen Schattierungen, von Orange bis Blutrot. Ein Typ, den Kim noch nie zuvor gesehen hatte, griff nach ihrem Arm und wollte sie an sich ziehen. Sabrina machte sich noch einmal los. »Marie kommt bestimmt bald«, sagte sie, dann wandte sie sich dem Jungen zu und lächelte ihn an.
Kim blieb einen Moment lang stehen und sah den beiden bei ihren Verrenkungen zu, dann holte sie tief Luft. Was sollte sie eigentlich hier? Sie hatte überhaupt keine Lust zu tanzen. Nur der Gedanke an Lukas hielt sie davon ab, sofort wieder zu gehen. Wieso fand sie ihn nur so wahnsinnig faszinierend, sodass sie bei ihm sogar ihre Angst vor Jungs vergaß? Ein paar Minuten ließ sie die Musik auf sich wirken, dann zupfte Sabrina sie am Arm.
»Da ist er!«, schrie sie Kim ins Ohr.
Kims Herz machte einen Satz, als sie ihn erkannte.
Lukas stand an der Bar und hielt ein Glas mit irgendeiner dunklen Flüssigkeit in der Hand. Er trug dieselben Klamotten wie in der Schule: Jeans und ein schwarzes T-Shirt, seine Jacke hatte er offenbar auch an der Garderobe abgegeben. Kim wurde bewusst, dass sie ihn zum ersten Mal ohne das speckige Jeansteil sah, und stellte fest, dass er ziemlich breite Schultern hatte.
Sein Blick schweifte suchend über die Menge, aber bisher hatte er Kim noch nicht entdeckt. So hatte sie endlich mal die Gelegenheit, sich ihn unbemerkt genauer anzusehen. Das zuckende Licht der Scheinwerfer warf Reflexe auf seine Wangenknochen und auch auf seine blonden Haare, die ihm heute Abend genauso strubbelig in die Stirn fielen wie sonst. Drei ältere Mädchen, die nur wenige Schritte von ihm entfernt an der Bar standen, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten ganz offensichtlich über ihn.
Falls ihm das bewusst war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er hob das Glas an den Mund, um einen Schluck zu trinken. Über den Rand hinweg, entdeckte er Kim. Als er das Glas wieder sinken ließ, lag ein Lächeln auf seinen Lippen.
Er schien sich tatsächlich zu freuen, sie zu sehen. Unwillkürlich verglich sich Kim mit den drei älteren Mädchen und fragte sich, warum eigentlich. Gegen diese drei war sie absolut unscheinbar.
»Komm!« Mitten im Song gab Sabrina ihrem Tanzpartner einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann packte sie Kim am Arm und zog sie in Richtung Bar. Dafür mussten sie sich durch die Menge drängen, und als sie Lukas erreicht hatten, atmete Sabrina so schwer, als habe sie einen Hundertmeterlauf hinter sich. »Hi!«, rief sie.
»Hi.« Lukas nickte Sabrina zu, richtete den Blick dann aber sofort auf Kim. »Schön, dass du da bist.«
In Kims Ohren summte es. Steif wie ein Stockfisch stand sie da. Auf einmal war ihr schon wieder schlecht, aber diesmal lag es nicht an irgendwelchen düsteren Erinnerungen.
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