Schattenfluegel
charmant!«
Sigurd grinste nur. »Wollen wir nachher …« Er wurde unterbrochen, weil das Telefon im Flur klingelte.
Wie ein geölter Blitz sprang Kim auf und rannte hin. Sie war froh über die Unterbrechung. So musste sie sich erst mal keine Ausrede für Sigurds sicher gut gemeinte Unternehmung einfallen lassen. »Ferber?«, meldete sie sich.
»Kim? Bist du das?« Am anderen Ende war Frau Gottwald, Maries Mutter.
»Ja«, antwortete Kim. »Meine Mutter ist in der Reha.« Sie erinnerte sich daran, dass Johanna sie schon mindestens hundertmal ermahnt hatte, sich am Telefon mit Vor- und Nachnamen zu melden. Offenbar wurde ihre Stimme in der letzten Zeit der ihrer Mutter immer ähnlicher, und das hatte schon oft zu Verwirrung bei den Anrufern geführt.
»Stimmt ja!« Frau Gottwald klang gehetzt. »Ich rufe an, weil … Ist Marie bei dir?«
Kim zuckte zusammen. Schlagartig wurde ihr erst heiß, dann kalt. Seit Sigurd Marie gestern Abend fortgeschickt hatte, hatte sie die Freundin nicht mehr gesehen. Und sie hatte auch gar nicht mehr an sie gedacht. Über die ganze Sache mit Lukas hatte Kim sie einfach vergessen. »Nein«, antwortete sie jetzt vorsichtig.
Da holte Frau Gottwald zitternd Luft, und als sie weitersprach, konnte man hören, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Es ist … Marie ist verschwunden. Wir haben es erst heute Vormittag gemerkt, weil sie bei Sabrina übernachten wollte und von da nicht nach Hause gekommen ist. Ich wollte sie auf ihrem Handy anrufen, aber es ist ausgeschaltet. Also habe ich bei Sabrina zu Hause angerufen, aber Marie ist gar nicht dort gewesen …«
Die Kälte breitete sich jetzt in Kims ganzem Körper aus und erreichte das Herz. Eine eisige Klammer schloss sich darum und presste es zusammen. »Sie wollte … übernachten?« Das Wort blieb Kim fast im Hals stecken. Warum zum Teufel hatte Sabrina nicht schon gestern Abend Alarm geschlagen? Fieberhaft überlegte Kim. Oder hatte Sabrina ihr etwa erzählt, dass Marie bei ihr schlafen wollte? Hatte sie das auch einfach so vergessen? Genau so, wie sie Marie einfach vergessen hatte? Aber sosehr sie auch nachdachte, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Sabrina von einer Übernachtung gesprochen hatte. »Davon wusste ich nichts«, murmelte Kim.
»Ich fürchte, dass sie mit irgendeinem Jungen aus der Disco gegangen ist«, redete Frau Gottwald weiter, ohne auf Kims Bemerkung einzugehen.
Kim hatte jetzt das Gefühl, dass kein Blut, sondern nur noch Eiswasser durch ihre Adern floss. Es fühlte sich so an, als bekäme sie keine Luft mehr. »Marie war gar nicht im Pascha«, gelang es ihr zu sagen. Ihre Stimme klang dünn und piepsig wie auf fünftausend Metern Höhe.
»Was sagst du da?« Panik schwang nun in Frau Gottwalds Stimme mit. »Oh, mein Gott!« Ein Rascheln erklang, das sich so anhörte, als würde sie die Hand über die Sprechmuschel legen. Dann hörte Kim ein Murmeln, offenbar sprach Maries Mutter mit jemand anderem. »Kim?«, fragte sie schließlich.
»Ja?«
»Wenn sie sich bei dir meldet, ruf mich sofort an, versprichst du mir das?«
Kim nickte. »Natürlich.«
»Du hast nicht doch irgendeine Ahnung, wo sie …«
»Es tut mir leid, Frau Gottwald.«
»Ja. Ich verstehe. Danke, Kim. Ruf an, ja?«
»Sobald ich etwas hör …« Mitten im Wort hatte Frau Gottwald aufgelegt. Das Tuten der leeren Leitung dröhnte in Kims Ohren. Erschrocken starrte sie den Hörer in ihrer Hand an.
Ihre Fingerknöchel schimmerten schneeweiß, und als sie in den Spiegel neben der Garderobe schaute, erkannte sie sich beinahe selbst nicht, so bleich war sie.
Kapitel 10
Obwohl sie wusste, dass das völlig bescheuert war, hielt Kim am nächsten Morgen in der Schule Ausschau nach Marie. Sie hatte am Tag zuvor mehrmals versucht, ihre Freundin auf dem Handy anzurufen, sie aber nie erreicht. Sie hatte auch noch einige Male mit Frau Gottwald telefoniert und dabei erfahren, dass es noch immer keine Spur gab. Die Gottwalds hatten die Polizei verständigt, aber die sah keine Notwendigkeit, sich sofort um diese Angelegenheit zu kümmern. Dazu war Marie schon zu oft von zu Hause ausgerissen.
»Sie wird wieder auftauchen«, hatte einer der Beamten gesagt, mit denen Maries Mutter gesprochen hatte. »So wie das letzte Mal auch.«
In ihrer Erinnerung konnte Kim immer noch die Empörung in Frau Gottwalds Stimme hören, mit der sie Kim von dieser Reaktion des Polizisten erzählt hatte. Kim hatte Mitgefühl vorgetäuscht, aber insgeheim hatte sie dem Mann
Weitere Kostenlose Bücher