Schattenfluegel
den Wagen, öffnete die Tür und ließ sich in die ausgeleierten Polster fallen. Das Fahrzeuginnere roch nach Staub und alter Möbelpolitur und ein bisschen nach Rauch. »Fahren wir weit?«, fragte sie.
Lukas legte den ersten Gang ein. Ein dunkler Mercedes näherte sich von hinten, sie mussten ihn vorbeilassen. Dann fädelte Lukas sich in den schwachen Verkehr ein. »Ungefähr eine Viertelstunde.«
Kim lehnte sich zurück und lauschte in sich hinein. Sie spürte kein bisschen Angst dabei, hier mit Lukas allein im Auto zu sein und nicht zu wissen, wohin sie fahren würde. Es fühlte sich einfach nur gut an. Ein Lächeln glitt über Kims Gesicht.
»Warum lachst du?« Lukas ließ den Blick nicht von der Straße, während er das sagte.
»Nur so. Ist das dein Auto?«
»Eigentlich das von meinem Vater, aber ich kann es haben, so oft ich will.« Ein Schatten fiel über Lukas’ Gesicht, als er das Wort »Vater« aussprach. Kim fragte sich, warum, aber sie hatte jetzt keine Lust, weitere Fragen in ihrem Kopf zu wälzen. Stattdessen lehnte sie sich zurück und sah zu, wie die Wohnhäuser draußen einem Industriegebiet wichen. »Wohin fahren wir denn nun?«, fragte sie.
»Warte ab!« Lukas wechselte die Fahrbahn und bog nach links ab. Jetzt ging es aus der Stadt hinaus aufs Land.
Kim beschloss, die Fahrt einfach zu genießen. Ihr Magen kribbelte schon wieder wie ein ganzer Ameisenhaufen. So unauffällig wie möglich musterte sie Lukas. Er fuhr sehr konzentriert und nicht besonders schnell.
»Wie war es bei dir heute in der Schule?«, fragte sie, als das Schweigen zwischen ihnen langsam unangenehm wurde.
Er zuckte die Achseln. »Langweilig. Miss Piggy hat mal wieder einen ihrer Vorträge über Sedimentgesteine gehalten.«
Miss Piggy war der wenig freundliche Spitzname einer übergewichtigen Geografielehrerin, die sich bevorzugt in Rosa kleidete und deren Steckenpferd die Mineralogie Norddeutschlands war. »Oje!« Kim musste lächeln. Eine Weile lästerten sie über verschiedene Lehrer und ihre Eigenheiten, dann machte Lukas einen Scherz über einen Mann mit einem unglaublich zotteligen Hund, der am Straßenrand wartete. Sie lachten und Kim spürte, wie sich das Kribbeln in ihrem Bauch in lauter Glücksgefühle wandelte. Ihr Blick fiel auf Lukas’ rechte Hand, die auf dem Schaltknüppel lag. Er hatte lange, schmale Finger, Pianistenhände, so nannte Johanna solche Hände immer. Kims eigene Hand lag auf ihrem Oberschenkel, nur knapp zwanzig Zentimeter von Lukas’ entfernt.
Sie fuhren durch ein kleines Dorf und Lukas musste herunterschalten. Zu Kims Bedauern nahm er danach seine Hand zurück ans Steuer. Sie selbst rührte sich nicht. Aber sie wusste, wenn sie aus dem Dorf wieder raus waren, würde er beschleunigen und deshalb erneut schalten müssen. So unauffällig wie möglich schob Kim ihre Hand ein wenig näher an den Schaltknüppel heran.
»In dem Haus habe ich mal gewohnt«, sagte Lukas plötzlich und riss Kim damit aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen und er warf ihr einen Blick zu. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du nicht. Ich war nur gerade mit den Gedanken woanders.«
Er musterte sie kurz, schaute dann wieder auf die Straße. »Klar.« Er fragte nicht, worüber sie nachgedacht hatte, und Kim konnte nur hoffen, dass er nicht bemerkt hatte, wie rot sie geworden war. Ihre Wangen fühlten sich zumindest gerade ziemlich heiß an.
Schnell wandte sie den Kopf, um noch einen Blick auf Lukas’ altes Zuhause erhaschen zu können, aber es war schon zu spät. Sie fuhren um eine Kurve und das Gebäude, auf das er gezeigt hatte, ein alter, mehrstöckiger Kasten aus den Sechzigerjahren, verschwand aus ihrem Blickfeld.
Die Straße, in die sie nun einbogen, war mit Kopfsteinpflaster belegt. Der alte Golf rumpelte und ächzte auf der unebenen Fahrbahn. Lukas steuerte eine der Parkbuchten am Straßenrand an und hielt unter einer alten Linde. Offensichtlich hatten sie ihr Ziel erreicht.
»Da sind wir«, sagte er dann auch und drehte den Zündschlüssel. Der Motor erstarb.
Kim sah sich um. Sie befanden sich in einer alleeartigen Dorfstraße, in der sich hauptsächlich Einfamilienhäuser aneinanderreihten. Nur auf ihrer Straßenseite, in ungefähr zweihundert Metern Entfernung, erhob sich ein großes, modernes Gebäude aus Glas und gelb angestrichenem Beton mit einer kleinen Rasenfläche davor. Auf dem Rasen stand ein buntes Metallschild. »Pflegeheim St. Ansgar« stand in Regenbogenfarben
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