Schattenfluegel
Uhr morgens arbeiten konnte. Bestimmt hockte er im Schlafzimmer über seinem Laptop und schrieb an irgendeinem Artikel. Zumindest hoffte sie das. Da er leider die Angewohnheit hatte, vor dem Schlafengehen immer noch mal nach ihr zu sehen wie nach einem Kleinkind, hätte er sonst ihren verbotenen Ausflug mit Sicherheit schon entdeckt. Leise schloss sie ihre Zimmertür wieder, dann schaltete sie das Licht an und warf sich angezogen auf ihr Bett. Ihr Blick fiel auf den Kleiderschrank. Hatte sie den nicht vorhin offen gelassen? Aber sie dachte nicht weiter darüber nach, denn ihre Gedanken kreisten um Lukas und sein seltsames Verhalten. Was hatte dieser Typ für ein Geheimnis?
Irgendwann döste sie ein – und schreckte hoch, weil ein klirrendes Geräusch sie aus einem unruhigen Schlaf riss. Sie öffnete die Augen und starrte an die Decke, wo die noch immer brennende Lampe ein zackiges Strahlenmuster zeichnete.
Da klirrte es wieder. Es war ein kurzes, schneidendes Geräusch und jetzt erkannte Kim auch, was es zu bedeuten hatte. Jemand warf kleine Steinchen gegen ihre Scheibe!
So schnell sie konnte, war sie auf den Beinen und am Fenster. Sie stieß es auf und lehnte sich nach draußen. Auf dem Rasen vor ihrem Zimmer war niemand zu sehen. Sie wollte sich schon wieder zurückziehen, als eine leise Stimme rief: »Kim!«
Ihr Herz machte einen Hüpfer.
Es war Lukas!
Wieder beugte sie sich hinaus, diesmal etwas weiter, und jetzt konnte sie ihn unter dem Fliederbusch rechts am Zaun erkennen. Das Licht der Straßenlaterne reichte nicht ganz bis zu ihm hin und so wirkte er wie ein Schattenriss, den jemand aus der Dunkelheit gestanzt hatte.
»Ich komme runter!«, rief sie leise.
Sie ließ das Fenster offen stehen, rannte auf den Flur hinaus und die Treppe hinunter. So schnell sie konnte, schlüpfte sie in ihre Schuhe und war im nächsten Moment schon draußen auf der Vortreppe. »Wo bist du?«
Ihr Herz raste vor Aufregung. Wie spät mochte es mittlerweile sein? Genau in dem Moment, als sie sich das fragte, gingen in der Straße die Laternen aus. Es war also halb eins.
Kim biss die Zähne zusammen. Das wenige Licht, das durch den Türspalt hinter ihr nach draußen fiel, reichte gerade mal aus, dass sie ihre eigenen Hände erkennen konnte. Alles dahinter verschwamm in völliger Finsternis. Um das zu ändern, drückte Kim die Haustür weiter auf und schaltete die Laterne an der Hauswand an. Das gelblich fahle Licht beleuchtete ungefähr die Hälfte des Rasens. »Lukas?«
»Ich bin hier.«
So dicht bei ihr ertönte seine Stimme, dass sie vor Schreck einen kleinen, spitzen Schrei ausstieß. Lukas trat in den Schein der Laterne. Kim schlug die Hände vor den Mund. Beinahe hätte sie noch einmal aufgeschrien. Lukas war aschfahl, sein Unterkiefer war auf der linken Seite geschwollen und gerötet, als hätte ihm jemand einen Kinnhaken verpasst. Seine Handknöchel bluteten, und als er noch ein Stück näher trat, konnte Kim den beißenden Geruch wahrnehmen, der von ihm ausging. Er roch so stark nach Schnaps, als hätte er den ganzen Abend nichts anderes in sich hineingekippt.
»Was ist mit dir passiert?«, keuchte Kim.
Statt ihr eine Antwort zu geben, wandte Lukas sich abrupt um, stürzte zurück zu dem Fliederbusch und verschwand im Schutz der Dunkelheit. Anhand der eindeutigen Geräusche, die kurz darauf folgten, konnte Kim erkennen, dass er sich übergab.
Sie musste sich etwas überwinden, aber dann sprang sie die drei Stufen hinunter und lief über den Rasen, um nach Lukas zu sehen.
Im gleichen Moment, in dem sie den Arm nach ihm ausstrecken und ihn berühren wollte, richtete er sich wieder auf. Er wischte sich über den Mund, dann wandte er sich um. »Es tut mir so leid«, murmelte er. Sein Kinn zitterte, jedenfalls glaubte Kim das in dem dämmrigen Licht zu sehen.
»Was tut dir leid?«, fragte sie, doch er antwortete nicht.
Als sie erneut die Hand nach ihm ausstrecken wollte, wich er einen Schritt zurück. Das Licht der Laterne beleuchtete nur eine Hälfte seines Gesichts, der Rest lag im Dunkeln.
Kim fröstelte.
»Kim?« Sigurds Stimme kam ihr vor wie ein rettender Anker.
»Ich bin im Garten!«, rief sie über die Schulter zurück, ohne Lukas dabei aus den Augen zu lassen.
Der richtete den Blick auf die Haustür und straffte ein wenig die Schultern, als Sigurd herauskam und quer über den Rasen zu ihnen herübermarschierte. »Alles in Ordnung?«, fragte er, während er Lukas von Kopf bis Fuß musterte. Wenn er
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