Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
Immer wieder verschwammen die Matheaufgaben vor ihren Augen und wurden abgelöst von den Erinnerungen, die durch ihren Kopf geisterten. Das Foto von Nina mit der Libelle auf ihrem Gesicht. Der Kabelbinder um ihre Handgelenke. Und dann Maries lachendes Gesicht.
    Maries stark geschminkte Augen. Ihre spöttische Stimme.
    »Du musst dich beeilen, Süße. Hab dich nicht so, Süße!«, sagte sie.
    Marie. Immer wieder Marie. Marie. Marie.
    Kim stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub das Gesicht in beiden Händen.
    Dann unternahm sie einen weiteren Anlauf, aber als sie auch diesmal keinen Sinn in den Zahlenkolonnen in ihrem Buch erkennen konnte, gab sie es auf. Sie warf sich auf ihr Bett und zog Ninas Tagebuch aus dem Regal.
    Das Gedicht war noch genauso rätselhaft wie all die anderen unzähligen Male, die sie es schon gelesen hatte.
    Töte mich zärtlich, Liebster!
    Kim fröstelte.
    Das Klingeln des Handys riss sie aus ihren Grübeleien. Sie hatte das Gerät nach der Schule an die Steckdose gehängt, weil der Akku mal wieder leer gewesen war, und dann hatte sie es dort vergessen.
    Jetzt griff sie danach und schaute auf die angezeigte Telefonnummer. Sie kannte sie nicht, nahm den Anruf aber trotzdem an. »Hallo?«
    »Ich bin’s.«
    Lukas!
    In ihrem Bauch erwachten die Schmetterlinge und flatterten umher.
    »Oh. Hallo!«
    Er klang amüsiert. »Du klingst, als hätte ich dich geweckt.«
    »Wie? Nein!« Kim legte das Tagebuch fort. »Ich habe Mathe gemacht.«
    »Aha.«
    »Woher hast du meine Handynummer?«, erkundigte Kim sich.
    Er lachte leise. »Von Sabrina. Hat ’ne Weile gedauert, bis ich sie so weit hatte, dass sie die rausgerückt hat.«
    Es rauschte in der Leitung. Eine Weile sagten sie beide nichts und Kim rutschte unruhig auf ihrem Bett hin und her. Sollte sie Lukas nach dem fragen, was Sigurd gerade behauptet hatte? Aber wie fragte man jemanden ganz nebenbei, ob er vorbestraft war? Völlig unmöglich!
    Lukas schien ihr Schweigen falsch zu deuten. »Bist du mir böse?«, fragte er mit einem Mal.
    Kim prustete ungläubig. »Warum sollte ich böse sein?« Die Vorstellung war geradezu absurd!
    »Na, wegen dem Kuss!«
    »Oh das!« Ein Lächeln glitt über Kims Gesicht. Sachte berührte sie ihre Lippen. Fast konnte sie die von Lukas noch spüren. »Nein. Ich bin nicht böse.«
    »Dann ist es ja gut.«
    »Warum rufst du an?«
    »Ich glaube, ich hatte Sehnsucht nach dir.« Das Rauschen wurde stärker, dann verstummte es fast vollständig. Kim konnte Lukas atmen hören.
    »Sehnsucht?« Sie wollte einen Scherz machen, aber ihr fiel einfach nichts Schlaues ein. Warum verließ einen die Schlagfertigkeit immer im ungünstigsten Moment? »Warum das?«, gelang es ihr schließlich zu sagen.
    Er gab einen fragenden Laut von sich. »Wie meinst du das?«
    »Nur so.« Dann fasste sie sich ein Herz. »Ich frage mich eben, was du an mir findest.« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Schließlich bin ich doch völlig durchschnittlich!
    Sie hörte Lukas auflachen. »Das ist aber nicht dein Ernst, oder?«
    Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also schwieg sie.
    »Hast du in deinem Leben überhaupt schon mal in den Spiegel geschaut?«, fragte er.
    »Wieso?«
    Er schwieg einen Moment, schien nach den passenden Worten zu suchen. »Du hast wunderschöne Augen, Kim, und überhaupt … Aber weißt du, was ich viel wichtiger finde?«
    »Hm?«
    »Du bist klug.« Er prustete leise. »Uff! Ich bin nicht besonders gut in solchen Gesprächen. Wollen wir nachher noch ein Eis essen gehen?«
    Kims Herz schlug einen Salto. Er fand sie hübsch! Nein, nicht hübsch – wunderschön! Die Vorstellung, ihn heute noch wiederzusehen, war verlockend. Sigurd hatte ihr keine allzu große Szene gemacht, weil sie trotz der Sache am Samstagabend heute mit Lukas weggefahren war. Vielleicht sollte sie ihr Glück also besser nicht überstrapazieren. Aber natürlich wollte sie auch auf keinen Fall, dass Lukas dachte, sie hätte keine Lust.
    »Ich weiß nicht«, begann sie und biss sich auf die Unterlippe. Oh Mann, völlig falscher Anfang! »Ich meine«, schob sie eilig nach, »ich habe schon Lust. Große sogar! Aber ich weiß nicht, ob Sigurd es erlaubt.«
    »Sigurd ist der Typ, der nicht dein Vater ist, oder?«
    »Ja.« Kim setzte sich anders hin. Warum konnte sie ihre Beine und Arme einfach nicht still halten?
    »Schade«, meinte Lukas.
    »Ich überlege noch mal, okay?«
    Unten an der Haustür klingelte es.
    »Sigurd hat Pizza bestellt.

Weitere Kostenlose Bücher