Schattenfluegel
Ich muss jetzt aufhören. Ich rufe dich nachher noch mal an, ja?«
»Tu das!«
»Lukas?« Kim lauschte, wie Sigurd den Flur entlangging, um zu öffnen.
»Ja?« Lukas’ Stimme klang ein klein wenig spöttisch, fand sie.
»Ach, nichts! Bis nachher!« Sie legte auf und blies sich gegen die Haare. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch waren in heller Aufregung, aber Kim hatte keine Zeit, das Gefühl lange zu genießen.
»Kim!«, rief Sigurd von unten.
Seine Stimme klang seltsam. Tonlos, als sei etwas Schlimmes passiert.
Kapitel 12
»Ich komme!« Kim stöpselte ihr Handy wieder an die Steckdose, dann krabbelte sie vom Bett und lief nach unten.
Auf halber Treppe blieb sie wie angewurzelt stehen.
Unten stand nicht der Pizzabote, sondern eine Frau. Eine Frau, die Kim nur allzu gut kannte und deren unerwarteter Anblick bei ihr alle Alarmglocken zum Schrillen brachte. »Was ist mit Marie?«, keuchte sie.
Die Frau sah sie aufmerksam an. Sie hatte einen durchdringenden Blick – daran erinnerte sich Kim noch genau, und das bekam sie auch jetzt wieder zu spüren. Sie fühlte sich bis auf den Grund ihrer Seele durchleuchtet.
Im Flur stand Kriminalkommissarin Doris Keller. Eine der Polizeibeamtinnen, die Ninas Tod untersucht hatten. Diejenige, die ihnen damals die Nachricht von Ninas Tod überbracht hatte.
Die bekannten Bilder begannen in Kims Kopf zu rasen.
Nina.
Die Libelle.
Kabelbinder.
»Hallo, Kim«, sagte Frau Keller. Sie hatte eine ruhige, leicht heisere Stimme und Kim erinnerte sich wieder daran, wie viel die Kommissarin damals schon geraucht hatte. »Warum glaubst du, dass ich wegen Marie komme?«
»Haben Sie sie gefunden? Ist ihr was passiert? Lebt sie?« Die Fragen sprudelten aus ihr heraus, ohne dass Kim etwas dagegen tun konnte.
Langsam schüttelte Frau Keller den Kopf. Ihr Blick ruhte noch immer forschend auf Kims Gesicht. »Nein. Wir haben sie nicht gefunden. Noch nicht. Aber ich bin damit beauftragt worden, sie zu suchen. Sie ist jetzt doch schon eine ganze Weile weg.« Dann wandte sie sich an Sigurd. »Gibt es die Möglichkeit, irgendwo in Ruhe zu sprechen?«
Sigurd wies in Richtung Küchentür. »Kommen Sie«, murmelte er. Auch ihn schien das Auftauchen der Kommissarin aus der Fassung gebracht zu haben. »Ich räume nur eben den Tisch ab.« Er raffte seine Zeitungen, den Laptop und seine Stifte zusammen. Als er den ganzen Stapel zur Anrichte neben der Spüle trug, fielen ihm zwei der Bleistifte herunter und landeten mit einem leisen Klappern auf den Fliesen.
Bevor Sigurd abwehren konnte, hatte sich Frau Keller gebückt.
»Danke«, sagte er, als sie ihm die Stifte reichte. Dann wies er auf einen der Stühle. »Bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Seufzend setzte Frau Keller sich. »Ein Kaffee wäre schön, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
»Kein Problem!«
Kims Mutter war ein echter Kaffeejunkie. Vor einigen Monaten hatte sie sich einen riesigen, glänzenden Kaffeevollautomaten gekauft. Mit dem konnte man nicht nur normalen Kaffee herstellen, sondern auch Espresso, Cappuccino und Latte macchiato. Dazu Tee und heiße Milch und wer weiß, was noch alles. »Nur zum Mond fliegen kann das Teil noch nicht«, hatte Sigurd spöttisch gesagt, als er die Maschine zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt stellte er einen von Johannas schweren Steingutbechern unter den Kaffeeauslauf, drückte ein paar Knöpfe und das Mahlwerk setzte sich lautstark in Gang.
»Wie geht es dir?«, fragte Frau Keller Kim, während der Kaffee in den Becher zu laufen begann.
Kim zuckte mit den Schultern. »Geht so.«
»Warum hast du mich gefragt, ob Marie noch lebt? Fürchtest du tatsächlich, sie könnte tot sein?«
Wieder zuckte Kim mit der Schulter. Sie wusste nicht wirklich, was sie befürchtete. Da war einfach nur diese Angst. »Meine Schwester …«, flüsterte sie.
Frau Keller nickte. »Natürlich. Das alles erinnert dich an sie, stimmt’s? Aber deine Schwester war ein ganz anderer Mensch, Kim. Marie ist vorher schon öfter weggelaufen. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass ihr das Gleiche passiert ist wie damals … Nina.« Sie musste einen Moment überlegen, aber dann hatte sie den Namen parat.
Kim wollte ihr erst widersprechen, aber dann wurde ihr klar, dass Frau Keller recht hatte. Und trotzdem … das nagende Gefühl, dass Marie etwas Schlimmes zugestoßen war, ließ sich nicht mehr so einfach vertreiben.
»Warum sind Sie mit der Suche nach Marie beauftragt worden?«, fragte sie.
Die
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