Schattenfluegel
Kommissarin hatte ein längliches, hageres Gesicht. Die Form wurde zusätzlich betont, da sie ihr blondes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie trug kein Make-up und ihre Kleidung wirkte mit Jeans und Pullover eher sportlich als elegant.
»Dies ist eine Kleinstadt«, erklärte sie, »wir haben nur vier Kripobeamte. Da kommt es vor, dass ich nicht nur … ähm, Mordfälle bearbeiten muss, sondern auch Vermisstenfälle.« Sie sprach das Wort Mordfälle nur zögernd aus.
Kim schluckte. »Aber Sie sind von der Kriminalpolizei.«
»Ja.«
Sigurd stellte den Kaffeebecher vor Frau Keller hin. Sie nickte ihm dankend zu.
»Milch und Zucker?«, fragte er.
»Nur ein bisschen Milch, bitte.« Die Kommissarin wandte sich wieder Kim zu. »Ja«, wiederholte sie. »Ich bin von der Kriminalpolizei.«
»Dann vermuten Sie hinter Maries Verschwinden also doch ein Verbrechen?«
Frau Keller schüttelte den Kopf. Sigurd stellte ihr die Milchpackung auf den Tisch, sie griff danach und schenkte sich ein. Dann trank sie einen großen Schluck und seufzte wohlig. »Der ist gut!«
Sigurd lächelte leicht und setzte sich dann dazu.
»Im Moment geht niemand von einem Verbrechen aus«, erklärte Frau Keller ihnen. »Wir möchten Marie einfach nur finden und wohlbehalten nach Hause zurückbringen. Wie gesagt, unsere Information ist, dass sie schon öfter abgehauen ist, stimmt das?«
Kim nickte.
»Und hat sie am Wochenende, bevor sie verschwand, auch davon gesprochen, dass sie weglaufen wollte?«
»Nein.« Kim dachte an das kurze Gespräch im Flur. Unsicher sah sie Sigurd an.
Der schüttelte ebenfalls den Kopf. »Sie war kurz nach sieben hier, weil sie Kim zu einem Discobesuch abholen wollte. Ich habe Kim nicht erlaubt zu gehen, da ist sie allein wieder abgezogen. Von Weglaufen hat sie nichts gesagt. Zu dir etwa, Kim?«
Kims Schultern verkrampften sich. Ihr heimlicher Ausflug ins Pascha war kurz davor aufzufliegen, das war ihr klar. Wenn sie Frau Keller so gut wie möglich helfen wollte, musste sie hier und jetzt zugeben, dass sie am Samstag doch im Pascha gewesen war. Sie seufzte und holte dann tief Luft.
»Du hast mir zwar verboten, ins Pascha zu gehen«, sagte sie schnell, bevor sie es sich anders überlegte. »Aber ich war trotzdem da.«
Überrascht sah Sigurd sie an.
Sie wich seinem Blick aus. »Ich bin aus dem Fenster.«
Jetzt war es raus. Kim starrte auf die Tischplatte und wartete auf eine Reaktion, auf ein Donnerwetter, eine Standpauke, irgendetwas. Aber es kam nichts.
Sigurd seufzte nur. »Wir sprechen später darüber«, sagte er.
Es klingelte an der Haustür.
»Das wird mein Kollege sein«, meinte Frau Keller. »Er hat einen Klassenkameraden von Marie befragt, der weiter unten in der Straße wohnt. Wir wollten uns hier treffen.«
Sigurd stand auf und öffnete. Es war nicht Frau Kellers Kollege, sondern der Bote vom Lieferservice, der zwei Schachteln Pizza brachte. Während Sigurd ihn bezahlte, kam auch der Polizist. Sigurd begrüßte ihn mit einem Nicken und hielt ihm die Tür auf. Dann kam er hinter ihm her zurück in die Küche. Achtlos stellte er die beiden Pizzaschachteln auf dem Herd ab. Im Moment hatte niemand wirklich Appetit.
»Setzen Sie sich«, forderte Sigurd den Polizisten auf.
Der ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sehnsüchtig starrte er auf Frau Kellers Becher, und ohne ein Wort darüber zu verlieren, machte sich Sigurd daran, ihm ebenfalls einen Kaffee zu brauen.
Jan Weidenschläger hieß der Kriminalkommissar, das hatte Kim nicht vergessen. Er war ziemlich klein und rundlich. Ein spießiger Schnurrbart zierte seine Oberlippe und er trug schneeweiße Turnschuhe, die an ihm furchtbar altmodisch aussahen.
»Der Junge unten in der Straße weiß nichts«, berichtete er seiner Kollegin. »Scheint tatsächlich so zu sein, dass Marie ihr Verschwinden diesmal niemandem angekündigt hat.«
»Sie wollte nicht abhauen!«, warf Kim nun ein. »Wenn sie das vorgehabt hätte, dann hätte sie es mir gesagt. Bestimmt!« War das wirklich so?, fragte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Immerhin war ihre Freundschaft in den letzten Monaten ziemlich abgekühlt. Vielleicht hatte Marie einfach nur einen spontanen Entschluss gefasst, nachdem Kim nicht mit ins Pascha gedurft hatte.
Langsam schüttelte Kim den Kopf.
»Was denkst du?«, fragte Frau Keller. Wieder schien ihr Blick alle Fassaden durchdringen zu können.
Kim zögerte, erzählte dann aber doch von ihren Gedanken: »Ich kann mir
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