Schattenfluegel
nicht vorstellen, dass sie so rücksichtslos wäre, gar keinem Bescheid zu sagen.« Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. »Ich meine: Ihre Ausflüge waren doch meistens harmlose Trips. Sie hat immer einer von uns vorher gesagt, wo sie hinwill, entweder Sabrina oder mir.«
»Und das hat sie diesmal nicht getan.« Es war das erste Mal, dass Jan Weidenschläger sie direkt ansprach. Er hatte leicht gerötete Augen, stellte Kim fest, und seine Nase lief. Wahrscheinlich war er erkältet.
Kim schüttelte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht mir.« Sie suchte Weidenschlägers Blick und ganz kurz glaubte sie, in seinem Gesichtsausdruck so etwas wie Besorgnis zu erkennen.
Dies war der Moment, in dem sie sich plötzlich ganz sicher war.
Marie war irgendetwas Schlimmes passiert!
Nachdem die beiden Kommissare noch eine Reihe von Fragen gestellt hatten, gingen sie schließlich und ließen Kim und Sigurd voller Unbehagen zurück. Die Pizzen auf dem Herd waren inzwischen kalt geworden, aber das kümmerte Kim nicht.
»Wegen dem Pascha«, begann sie. Sie wusste, dass sie mit Sigurd darüber reden musste. Und sie wusste auch, dass sie eine Standpauke verdient hatte. Sie hatte beschlossen, sie ohne Widerworte über sich ergehen zu lassen.
»Du bist gegangen, obwohl ich es dir verboten hatte«, sagte Sigurd. Er stand mitten im Flur.
»Bin ich, ja.«
Sigurd legte die Hände vor dem Bauch zusammen, als wollte er beten. Dann löste er sie wieder voneinander und ballte sie stattdessen zu Fäusten. Schließlich seufzte er. »Ich habe dich mit der Erwähnung von Nina ziemlich wütend gemacht, oder?«
Überrascht hob Kim den Blick und sah ihn an. Diese Erkenntnis hatte sie nicht erwartet. »Ich war wütend, ja. Ich habe mit Dr. Schinzel so lange darum gekämpft, dass ich Jungs endlich wieder normal begegnen kann, und ich wollte mir das nicht einfach kaputt machen lassen.«
»Du magst diesen Lukas, oder?« Sigurd stand auf. Er nahm einen neuen Becher aus dem Regal und machte sich nun selbst einen Kaffee. Während das Gebräu durchlief, räumte er die beiden benutzten Becher in die Spüle.
Erst als er mit der Tasse in den Händen wieder auf einem Stuhl Platz genommen hatte, nickte Kim. »Ja.« Irgendwie fühlte sie sich seltsam. Sigurd verhielt sich so anders, als sie es erwartet hatte. Immerhin hatte sie ihn angelogen und sich über sein Verbot hinweggesetzt. Johanna hatte Kim eingeschärft, dass sie auf Sigurd hören sollte, und sie hatte es ihr auch versprochen. Dass sie trotzdem einfach ins Pascha gegangen war, hätte Sigurd eigentlich sehr viel wütender machen müssen, als er es tatsächlich war.
Unsicher, was diese seltsame Reaktion zu bedeuten hatte, musterte sie ihn.
Sigurd trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht.
Kim wartete darauf, dass er etwas sagte, aber sie wartete vergebens. »Was erwartest du jetzt von mir?«, forschte sie deswegen.
»Nun, da ich vermute, dass es nichts nützen würde, dir den Umgang mit diesem Lukas zu verbieten, erwarte ich nur eins.« Wieder trank Sigurd, bevor er weitersprach. »Hör ab und an auf deinen Kopf!«
Nach dem Gespräch mit den Polizisten war Kim nicht nur der Hunger auf Pizza, sondern auch die Lust aufs Eisessen vergangen. Nicht einmal die Aussicht darauf, Lukas noch einmal sehen zu können, erschien ihr verlockend. So suchte sie seine Nummer aus ihrem Anrufspeicher und rief ihn zurück, wie sie es versprochen hatte.
»Hey!«, meldete er sich. In seiner Stimme lag ein Lächeln.
»Ich hatte gerade Besuch«, sagte sie und versuchten, den Kloß herunterzuschlucken, der ihr in der Kehle steckte.
»So wie du dich anhörst, war es nicht der Pizzabote«, vermutete er.
Kim ließ sich auf ihr Bett fallen, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. »Nein.«
Lukas wartete, bis sie von sich aus weitersprach.
»Es war die Polizei.«
Sie hörte ihn scharf einatmen.
»Sie haben mich nach Marie befragt.«
»Und?« Kim konnte seine Anspannung durch die Leitung hindurch wahrnehmen. »Was ist mit Marie?«
»Sie wissen es nicht.« Kim öffnete wieder die Augen. Die weißen Wände erschienen ihr kalt und bedrohlich. »Sie suchen noch nach ihr.«
»Aber sie vermuten ein Verbrechen.« Ganz sachlich sagte er das, aber in der Tiefe seiner Stimme schwang Sorge mit.
»Ich weiß es nicht. Sie sagen Nein.«
»Aber du siehst das anders.«
Darauf antwortete Kim nicht. Ninas Mörder lief noch immer dort draußen herum. Nur durch viel Arbeit und durch Dr. Schinzels Hilfe war es
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