Schattenfluegel
ihr gelungen, nicht jeden Tag, jede Minute und jede Sekunde daran denken zu müssen.
In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich mühsam ihr eigenes Leben zurückerobert und nun, als Lukas aufgetaucht war, hatte sie geglaubt, es endlich geschafft zu haben. Endlich wieder fröhlich sein zu können.
Und ausgerechnet jetzt musste Marie verschwinden. Kim war fast ein wenig sauer auf ihre Freundin. Nur mit Mühe kämpfte sie gegen diese Wut an, weil sie wusste, wie irrational sie war.
Die Stille zwischen ihr und Lukas stand mittlerweile wie eine Wand. Auf einmal fühlte sich Kim, als wäre sie unter Wasser.
»Du glaubst, dass Marie dasselbe passiert ist wie Nina, stimmt’s?« Lukas’ Stimme war ganz ruhig.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Ich habe Angst.«
Wieder schwieg er. Lange.
»Ich passe auf dich auf, wenn du willst«, sagte er dann.
Trotz ihrer Angst und der Unruhe, die das Gespräch mit den beiden Polizisten in ihr wachgerufen hatten, musste Kim lächeln. Und ihr wurde wieder ganz warm ums Herz. »Das ist schön.«
»Ich vermute, dir ist die Lust auf Eisessen vergangen, oder?«
»Wenn ich ehrlich bin …«
»Kein Problem! Mach dir keine Sorgen! Wir sehen uns dann ja morgen in der Schule.«
»Ernie ist wahrscheinlich schon ziemlich genervt von uns«, versuchte sich Kim an einem Scherz.
Lukas lachte. »Die alte Pennechse! Der verschläft doch sowieso das Beste.« Irgendwie, dachte Kim, klingt sein Lachen dünn. Wie aus Glas.
»Kommst du klar?«, fragte Lukas.
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Ja.«
»Gut. Wenn nicht, ruf mich an, okay? Egal, wie spät es ist!«
»Danke!« Die Schmetterlinge in Kims Bauch flatterten jetzt wieder. »Gute Nacht, Lukas«, sagte sie ganz leise.
»Gute Nacht, Kleines!«
Dann legten sie beide auf.
Kapitel 13
Am nächsten Morgen fühlte sich Kim wie gerädert. Allein die Vorstellung, nur den kleinen Finger rühren oder gar aufstehen und in die Schule gehen zu müssen, war ihr schon zu viel. Sie fühlte sich matt und unendlich kraftlos. Alles um sie herum erschien ihr noch immer grau und farblos. Aus diesem Grund war sie heilfroh, dass sie um neun Uhr einen Termin bei Dr. Schinzel hatte und damit den Schulalltag unterbrechen konnte.
Das Behandlungszimmer wirkte heute weniger sonnig als sonst. Das war auch das Erste, was Kim dem Psychiater sagte, nachdem sie sich beide gesetzt und er seine Armbanduhr auf den Schreibtisch gelegt hatte.
»Weniger sonnig?«, wiederholte er nur.
Kim nickte. Sie legte beide Hände auf die Armlehnen des Ledersessels und versuchte, sich, so gut es ging, zu entspannen. »Liegt wahrscheinlich an meiner Freundin.«
Dr. Schinzel sah verwirrt aus, deshalb erzählte sie ihm, was mit Marie geschehen war. »Die Polizei vermutet, dass sie einfach nur abgehauen ist, weil sie das schon öfter gemacht hat.«
»Aber du glaubst nicht daran?«
Kim lauschte in sich hinein. »Ich habe Angst«, sagte sie dann.
»Wovor?«
»Davor, dass Marie das Gleiche passiert ist wie damals Nina.«
Dr. Schinzel nickte. »Verständlich. Möchtest du über Nina reden oder lieber über Marie?«
Eine Weile sprachen sie über Nina, über ihren gewaltsamen Tod – und auch über die Libelle, die der Mörder auf ihr Gesicht gelegt hatte.
Kim fühlte, wie das Thema sie auslaugte und sie das Bedürfnis bekam, über etwas anderes zu reden. »Sie wissen, dass Nina Tagebuch geschrieben hat bis kurz vor ihrem Tod«, meinte sie deshalb.
Der Psychiater schwieg.
»Erinnern Sie sich noch an das Gedicht darin?«
Noch immer antwortete Dr. Schinzel nichts. Sein Gesichtsausdruck war neutral wie immer, nur in seinen Augen konnte sie ein interessiertes Leuchten entdecken. »Erzähl mir davon!«, forderte er Kim auf, als sie nicht von sich aus weitersprach.
»Ich kann es immer noch auswendig«, sagte sie und begann, den Text aufzusagen. Die Worte taten ihr weh, aber sie schaffte es durchzuhalten, bis sie die letzte Zeile hinter sich gebracht hatte.
Dr. Schinzel saß regungslos da und lauschte dem kaum hörbaren Ticken seiner Armbanduhr. Die Stellung der Zeiger auf der Standuhr hinter seinem Rücken sah aus wie ein finsteres Grinsen, bemerkte Kim. Warum war ihr das früher nie aufgefallen?
»Liebeskummer hat Nina das Gedicht genannt«, sagte sie leise, »aber später hat sie es umbenannt. In Schattenflügel. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass das wichtig ist, aber ich komme einfach nicht darauf, warum.«
Dr. Schinzels Gesicht zeigte Bestürzung, als das
Weitere Kostenlose Bücher