Schattenfluegel
lachen. Ihr wurde warm davon.
»Bis morgen also!«, sagte er.
»Bis morgen.« Sie legte auf.
Nach diesem Telefonat fühlte sie sich wesentlich besser. Also stand sie auf und ging nach unten, wo Sigurd gerade dabei war, Nudeln zum Abendessen zu kochen. Auf der Arbeitsplatte lagen ein halbes Pfund Hackfleisch und eine große Tüte Tomaten für die Soße. Natürlich kam ihm keine Fertigsoße in den Topf.
Als er Kim hereinkommen hörte, drehte er sich um. »Geht es dir besser?«
Sie nickte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sigurd hatte schon den Tisch gedeckt und Kim nahm ein Glas und goss sich ein wenig Apfelsaft ein. Sie hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge, und als sie einen Schluck trank, zog sich ihr Mund fast schmerzhaft zusammen.
»Dieser Lukas«, meinte Sigurd vorsichtig, »er scheint ja ziemlich großes Interesse an dir zu haben.«
Kim holte Luft. »Ja. Kaum zu fassen, oder?«
Sigurd runzelte die Stirn. »Warum, kaum zu fassen? Du bist ein hübsches und ziemlich kluges Mädchen.«
»Danke für die Blumen.« Kim stellte das Saftglas auf dem Tisch ab.
»Er ist ziemlich ungewöhnlich für einen Teenager, finde ich«, sagte Sigurd. In der Zwischenzeit hatte er das Hackfleisch angebraten und die Tomaten klein geschnitten und dazugegeben. Jetzt würzte er das Ganze mit einer Mischung aus verschiedenen Kräutern.
Kim lauschte seinen Worten nach. Ungewöhnlich, ja, das war eine gute Bezeichnung für Lukas. »Er ist sehr nett und sehr vernünftig«, entgegnete sie und dachte an die Cola im Pascha. »Du musst dir keine Sorgen machen.«
Hoffentlich stimmt das auch!
Sigurd nahm den Topf vom Herd und trug ihn zum Ausguss. Als er die Nudeln in das bereitstehende Sieb goss, stieg eine Wolke Wasserdampf in die Höhe und hüllte ihn ein wie eine Nebelbank. »Schon klar.«
»Die Sache mit der Disco«, begann Kim. »Ich wollte …«
»Themenwechsel!«, sagte er fröhlich. »Beim Essen sollte man sich nicht mit solch schwermütigem Zeugs belasten.« Er schüttelte die Nudeln im Sieb, bevor er sie wieder in den Topf zurückgab, wo er sie mit der Soße mischte. Dann füllte er zwei Teller, brachte sie zum Tisch und setzte sich.
Eine Weile aßen sie schweigend, bis Kim das Gespräch mit Dr. Schinzel wieder einfiel. »Wusstest du, dass Schattenflügel ein altdeutsches Wort für Libelle ist?«, fragte sie unvermittelt.
Sigurd verschluckte sich an einer Nudel. Hustend ließ er die Gabel auf seinen Teller sinken. Vor Anstrengung wurde sein Kopf knallrot. »Wie?«, ächzte er, als er endlich wieder Luft bekam.
Kim erzählte ihm, was der Psychiater ihr gesagt hatte. »Schattenflügel, so hat Nina doch das Gedicht in ihrem Tagebuch genannt. Erinnerst du dich? Hat die Polizei eigentlich jemals mit dir über das Gedicht gesprochen?«
Er nickte. »Klar. Ich weiß, dass sie darin einen Hinweis auf diesen geheimnisvollen Freund vermutet haben, aber wirklich etwas gefunden haben sie ja dann doch nicht.«
»Schattenflügel«, murmelte Kim. »Nina scheint vor ihrem Tod irgendetwas mit Libellen zu tun gehabt zu haben, oder?«
Sigurd starrte nachdenklich vor sich hin. »Wenn das stimmt, dann …« Er verstummte. Seine Kiefermuskeln arbeiteten heftig. Schließlich richtete er den Blick wieder auf Kim.
»Wir müssen das der Polizei erzählen«, meinte sie.
»Stimmt. Ich rufe sie gleich nach dem Essen an.«
Kim legte die Gabel beiseite. Das Gespräch hatte ihr schon wieder den Appetit verdorben. Sie sah, dass Sigurd ihr einen missbilligenden Blick zuwarf, aber ihre Kehle war jetzt so eng, dass sie keinen einzigen Bissen mehr hinunterbekommen hätte.
»Ich lege mich noch ein bisschen hin«, murmelte sie und machte Anstalten aufzustehen.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
Sigurd ging öffnen, während Kim langsam die Treppe hinaufstieg. Sie war erst auf der Hälfte angekommen, als sie Lukas’ Stimme hörte: »Ich wollte zu Kim. Ist sie da?«
Ihr Herz machte einen Sprung.
»Ich weiß nicht …«, hörte sie Sigurd sagen. »Es geht ihr nicht so besonders …«
Kim kehrte auf dem Absatz um und lief die Stufen wieder nach unten. »Doch! Ich bin da.«
Da schob Sigurd die Haustür, die er bisher nur einen Spalt geöffnet hatte, ganz auf. Seufzend meinte er: »Komm rein!«
Lukas trat in den Flur. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er Kim entdeckte. »Hallo.«
Kim ging zögernd auf ihn zu. »Hallo, Lukas!« Sie hatte sich weder die Haare gekämmt noch einen Blick in den Spiegel geworfen. Wahrscheinlich
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