Schattenfluegel
sich ein bisschen entspannen konnte, meldete sich mit einem schrillen Klingeln ihr Handy.
Sie war drauf und dran, es klingeln zu lassen, presste sich sogar die Hände auf die Ohren, um es nicht mehr hören zu müssen, aber der Anrufer war hartnäckig. Nach dem fünfzehnten oder sechzehnten Klingeln gab Kim den Widerstand auf. Sie langte zu ihrem Schreibtisch hinüber und griff nach dem Handy, das am Ladekabel hing. Mit einem vorsichtigen »Hallo?« meldete sie sich.
»Kim? Ich bin’s!«
Kims Herz blieb stehen. »Lukas!«
»Kim, bitte, leg nicht auf, ich muss dich dringend etwas fragen. Weißt du, wo Ninas Handy sein k …«
»Wo bist du?«, fiel Kim Lukas in seine atemlosen Worte.
Er schwieg, schien zu überlegen, ob er ihr trauen konnte. Kim verspürte einen Stich in der Brust, als sie es bemerkte.
»Ich war es nicht, Kim, das musst du mir glauben!«, sagte er.
»Ich weiß!« Kim schielte zur Tür und vergewisserte sich, dass sie geschlossen und nicht nur angelehnt war. Niemand durfte erfahren, mit wem sie hier gerade sprach. Niemand!
Eine Weile war es ganz still in der Leitung. »Du weißt?« Lukas’ Stimme war voller Unsicherheit und verzweifelter Hoffnung.
»Ich weiß es.« Unwillkürlich flüsterte sie. »Und ich glaube dir.« Dann, nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, erzählte sie ihm von dem Besuch der Polizei. Sie berichtete ihm von dem Haar in Maries Hand und davon, dass er jetzt der Hauptverdächtige in Maries Mordfall war. Die ganze Zeit während sie sprach, fühlte sie sich wie zweigeteilt. Ihr eines Ich saß auf dem Bett und das andere schwebte über ihr, hörte ihr selbst beim Reden zu. Verdammt, wieso erzählte sie ihm das alles? Warum gelang es ihm immer wieder, sich ihr Vertrauen zu erschleichen? Oder glaubte sie ihm wirklich, wie sie eben behauptet hatte? Erst als sie Lukas alles berichtet hatte, vereinigten sich die beiden Kims wieder. »Sie sind auf der Suche nach dir!«, endete sie.
Jetzt, da alles gesagt war, fühlte sie sich erleichtert. Erleichtert, weil sie es geschafft hatte, eine Entscheidung zu fällen. Sie würde Lukas glauben.
Er war kein Mörder. Es musste eine andere Erklärung für sein Haar in Maries Hand geben.
So einfach war das.
Lukas schwieg lange. Ein entferntes Hämmern war zu hören, ein Geräusch, das Kim irgendwie bekannt vorkam, das sie aber im Moment nicht einordnen konnte. Dann sagte Lukas: »Wenn sie rauskriegen, dass du mir das alles erzählt hast, dann bekommst du einen Riesenärger!« Er klang ehrlich besorgt.
Kim lehnte den Kopf gegen die Wand. »Das ist unser kleinstes Problem, meinst du nicht?« Sie schloss die Augen.
»Oh Gott!«, ächzte Lukas tonlos.
Kim riss die Augen wieder auf. »Was ist?«, fragte sie alarmiert.
»Nichts!«, beruhigte er sie sofort. »Du hast eben unser Problem gesagt. Ich will dich in diese Sache nicht mit reinziehen, Kim. Ich will nur …«
»DU hast mich angerufen, oder?«
»Ja. Aber da wusste ich noch nichts von diesem Haar. Jetzt sieht die Sache ganz anders aus. Du darfst …«
»Wie kommt das Haar in Maries Hand?«, unterbrach Kim ihn.
Wieder schwieg Lukas. Sie glaubte, ihn durch die Leitung hindurch denken zu hören. »Irgendjemand will mir den Mord an Marie anhängen, aber ich habe keine Ahnung …«
»Wo bist du, Lukas?«
»Sie haben dich danach gefragt, oder?«
»Sie waren vorhin bei dir zu Hause und haben dich dort nicht angetroffen.«
»Wenn ich es dir sage«, meinte Lukas vorsichtig, »dann musst du es der Polizei melden, sonst machst du dich mitschuldig.«
»Warum stellst du dich nicht?« Kim schluckte. »Ich meine, wenn du unschuldig bist, wird sich das rausstellen.«
»Wenn ich unschuldig bin …?«
Kim biss die Zähne zusammen. »Lukas!«, beschwor sie ihn. »Du musst dich stellen.«
»Ich kann nicht!«
»Warum nicht?«
»Wegen dem Haar. Ich habe keine Ahnung, wie es an Maries Leiche gekommen ist, aber sie werden mich einsperren wie meinen Alten, Kim! Das halte ich nicht aus!« Er klang total verzweifelt. Wieder war es lange still und wieder hörte Kim dieses seltsame Hämmern.
»Bitte sag mir, wo du bist!«, flehte sie. »Ich möchte dir helfen!«
»Das kannst du.«
»Wie?«
»Nimm Ninas Tagebuch und lies mir das Gedicht noch einmal vor.«
Irritiert griff Kim nach dem roten Buch. »Warum? Ich meine …«, fragte sie, während sie nach der richtigen Seite suchte.
»Tu es einfach. Bitte!«
Und sie tat es.
»Töte mich zärtlich, Liebster«, las sie. Sie hörte, wie Lukas einen
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