Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
Stimmung, die über allem lag, ziemlich schnell wieder zunichte und Kim war froh darüber. Nicht einmal das Hämmern des Spechtes, das ihr neulich noch so traurig vorgekommen war, hatte heute eine Wirkung auf sie. Sie war nur hier, um etwas zu überprüfen, das ihr eben zu Hause eingefallen war.
    Der Hirsch, von dem Nina in ihrem Gedicht geschrieben hatte. Er kannte ihre Geheimnisse.
    Früher hatten Kim und Nina sich einen Spaß daraus gemacht, ihre persönlichen Dinge an den unmöglichsten Stellen zu verstecken. Eine Zeit lang hatte Nina zum Beispiel ihr Tagebuch in einem Plastikbeutel verpackt im Spülkasten der Toilette aufbewahrt.
    Kim hatte diese Angewohnheit längst vergessen gehabt. Aber jetzt war es ihr plötzlich wieder eingefallen. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein sie daran erinnern wollen und ihr deshalb wieder und wieder die Szene mit Lukas vor dem Hirschgeweih gezeigt?
    »Da kommt jemand! Ich muss auflegen!« Das waren die letzten Worte gewesen, die Nina auf Kims Mailbox gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie danach noch Zeit gehabt, das Handy zu verstecken.
    Rasch überquerte Kim das Karomuster der Fliesen und blieb vor dem Geweih stehen.
    Der Specht hielt inne. Drückende Stille lag über dem Raum.
    Kim lauschte. Dann setzte das Hämmern wieder ein und plötzlich wusste Kim: Das war das Geräusch, das sie gehört hatte, als sie vorhin mit Lukas telefoniert hatte!
    War er hier …?
    »Kim!«
    Seine Stimme fuhr ihr durch Mark und Bein.
    Mit einem Ruck drehte sie sich um und da stand er. In dem leeren Türrahmen, der in die ehemalige Restaurantküche führte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und in seinen Augen spiegelten sich die widersprüchlichsten Gefühle.
    Sie konnte nicht anders, sie rannte zu ihm und warf sich in seine Arme. Er hielt sie fest, umschlang ihren Körper und drückte sie an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an sie. »Oh, Kim!«, murmelte er in ihr Haar. Dann, mit einer hastigen Bewegung, als sei ihm plötzlich klar geworden, was er hier eigentlich tat, machte er sich wieder los. Er schob sie etwa einen Meter von sich und sah ihr forschend ins Gesicht.
    »Was tust du hier?«, fragte er.
    Kim zwang sich, ruhig zu atmen, sodass auch ihr galoppierendes Herz sich etwas verlangsamte. Trotzdem fühlte sie sich noch immer atemlos. Keinen Ton brachte sie heraus.
    »Du hättest nicht nach mir suchen sollen!«, sagte Lukas. Seine Hände lagen noch immer auf ihren Schultern.
    »Warum nicht?«, krächzte sie. Dann riss sie sich zusammen. »Ich habe nicht dich gesucht, sondern Ninas Handy.«
    Ein Licht flackerte in seinen Augen auf. »Du weißt, wo es ist?« Er ließ sie los.
    »Es sind Bilder darauf, nicht wahr? Irgendwas, das beweisen kann, dass du sie nicht …«
    Ganz dicht stand Lukas jetzt wieder vor Kim. Sie sah zu ihm auf. Du hättest mich nicht suchen sollen, hatte er eben gesagt. War das eine Drohung gewesen? Jetzt, da er vor ihr stand, mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen, da war sie sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob es klug gewesen war herzukommen.
    »Ein Film«, beantwortete er ihre Frage. »Ein Film, den sie kurz vor ihrem Tod gemacht hat. Wenn ich den hätte, könnte ich vielleicht beweisen, dass sie noch gelebt hat, als ich von hier weg bin …«
    »Du warst hier? Mit ihr?« Kim versagte erneut die Stimme.
    »Kurz bevor sie ermordet wurde. Ja.«
    »Oh, mein Gott!« Jetzt trat Kim zurück. »Was denn noch alles?«
    Ein unterdrücktes Stöhnen entwich ihm. »Ich weiß es nicht, Kim!« Mit beiden Händen fuhr er sich durch die Haare, strich sie sich aus dem Gesicht, doch sie fielen sofort wieder an die alte Stelle und beschatteten seine Augen. »Du hast eine Ahnung, wo Ninas Handy sein könnte, oder?«
    Kim wollte nicken, aber dann zögerte sie. Was, wenn darauf etwas ganz anderes war, als Lukas behauptete? Was, wenn er das Handy suchte, weil er einen Beweis für seine Tat vernichten wollte?
    Sie rieb sich über beide Augen. »Was genau ist darauf, Lukas?«, fragte sie leise.
    »Ein Film, wie schon gesagt. Nina hat ihn gemacht.« Lukas sah sich um. Sie standen ganz in der Nähe der Holzklötze, die die Jugendlichen rund um die Feuerstelle hinterlassen hatten. Lukas ließ sich auf einen davon sinken und stützte den Kopf in die Hände. »Nina war verliebt in mich, Kim. Ich bin der, über den sie in dem Gedicht geschrieben hat. Aber ich war nicht in sie verliebt. An dem Tag, an dem sie …« Er schluckte schwer.

Weitere Kostenlose Bücher