Schattenfluegel
Unterbrechung weiter. »Du willst mich nur ärgern! Du hast mich …«
»Ich habe dir nie Grund gegeben zu glauben, dass ich dich liebe!« Lukas klang sehr erwachsen, als er das sagte. Vernünftig, aber auch schuldbewusst.
»Du …« Nina sprach nicht weiter. Kim tat es in der Seele weh, diese Szene mit anzusehen. Nina machte sich hier komplett zum Affen! Es war deutlich zu erkennen, dass Lukas nicht das Geringste für sie empfand. Außer einer gehörigen Portion Mitleid vielleicht.
»Was jetzt?«, flüsterte Nina schließlich.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr treffen. Ich gehe jetzt lieber.«
»Das kannst du nicht machen!« Mit diesen Worten richtete Nina die Kamera wieder auf Lukas’ Gesicht.
Unglücklich sah er sie an. Dann wandte er sich ab und ging.
»Du Arschloch!«, schrie Nina ihm hinterher. »Blödes, verdammtes Arschloch!« Der Raum verwischte auf dem Video zu bunten Schlieren. Kim vermutete, dass Nina sich umgedreht hatte. Dann wackelte das Bild heftig, ein Zeichen, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte.
Der Fliesenboden wurde von den Waschbetonplatten der Terrasse abgelöst. Ninas Schuhe waren zu sehen, die schwarzen Riemchensandalen, die sie am Tage ihres Todes getragen hatte.
In diesem Moment erklangen noch ein paar andere Schritte.
Kim fröstelte. Ein kalter Hauch packte sie im Genick, aber sie konnte den Blick nicht von dem kleinen Bildschirm in ihrer Hand abwenden.
»Tja«, hörte sie ihre Schwester mit trauriger Stimme sagen. Noch einmal verwischte das Bild, dann erschien Nina im Kameraausschnitt. Kim presste eine Hand auf den Mund, so sehr tat es weh, jetzt auch noch ihr Gesicht zu sehen. »Sieht so aus, als wär’s das gewesen. Vielleicht hat der Blödmann ja doch recht gehabt.« Tränen erschienen in Ninas Augen. »Libellen als Zei…« Mitten im Wort brach die Aufzeichnung ab, weil Kims alter Akku leer war.
Zurück blieb ein schwarzes Display, in dessen schimmernder Oberfläche Kim die Reflexion ihrer eigenen, weit aufgerissenen Augen erkennen konnte. Sie fühlte sich gleichzeitig frustriert und elektrisiert. Die Aufnahme war noch nicht zu Ende gewesen. Nina hatte gerade angefangen, etwas über Libellen zu sagen. Möglicherweise würde der Rest der Aufnahme einen Hinweis auf ihren Mörder geben.
Plötzlich fröstelte Kim. Ein kalter Luftzug streifte ihren Nacken. Draußen war es jetzt schon ein bisschen dämmerig. Angst grub sich mit kalten Fingern in ihr Herz. Wo blieb Lukas nur? Er war doch jetzt schon eine halbe Ewigkeit weg.
Sie hob den Kopf und wollte nach ihm rufen, als ihr auffiel, dass die Hintertür offen stand. War das vorhin auch schon der Fall gewesen, als sie die Küche betreten hatte?
Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.
Voller Unruhe stieß sie sich von der Anrichte ab.
»Lukas?«, rief sie zögernd.
Warum war er eigentlich weggegangen, so kurz bevor er einen Blick auf das Handy werfen konnte? Im gleichen Moment, als sich Kim diese Frage stellte, krachte etwas mit voller Wucht auf ihren Hinterkopf. Sie spürte den Schmerz, der in ihrem Schädel explodierte. Dann sah sie, wie der Boden mit rasender Geschwindigkeit näher kam. Das Letzte, was sie wahrnahm, bevor sie auf der Erde aufschlug, war Ninas Handy, das zu Boden fiel, quer über die glatten Fliesen schlidderte und zwischen den Füßen der Anrichte verschwand.
Dann wurde es pechschwarz um sie.
Sie erwachte mit einem Ruck und sofort griff das Grauen mit eisigen Fingern nach ihr. Sie lag auf einem kalten, staubigen Fußboden, über ihr baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke und spendete trübes Licht. Ein Knebel steckte zwischen ihren Zähnen, sodass sie kaum Luft bekam. Ihr war eiskalt. Und ihre Hände waren mit Kabelbindern vor ihrem Leib gefesselt!
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit man sie niedergeschlagen hatte. Sie hatte auch keine Ahnung, wo sie war. Immer noch im Waldschlösschen? Dort im Keller, wo man Ninas Leiche gefunden hatte?
Ein entsetztes Wimmern drängte sich durch ihre Kehle nach oben.
Wer hatte sie niedergeschlagen? Lukas? Das konnte nicht sein! Sie hatte doch eben noch den Beweis dafür gefunden, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte mit Nina Schluss gemacht. Er musste längst fort gewesen sein, als Nina ihren Mörder traf. Aber was, wenn er noch einmal zurückgekommen war?
Was, wenn der Rest der Aufnahme genau das zeigte, was Kim mehr als alles andere fürchtete?
Lukas als Mörder ihrer
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