Schattenfluegel
»… starb, haben wir uns hier getroffen, weil ich ihr sagen wollte, dass sie sich vergebliche Hoffnung macht. Sie hat gefilmt, wie wir reden … wie ich gehe und sie allein hier zurücklasse.« Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Arschloch!, hat sie hinter mir hergeschrien. An dem Tag hat mein Vater meine Mutter zum ersten Mal so stark verprügelt, dass sie ins Krankenhaus musste. Als ich nach Hause kam, war schon der Notarztwagen da. Schädelbasisbruch. Ich habe tagelang an ihrem Bett gesessen und nichts anderes mitbekommen. Erst fast zwei Wochen später habe ich erfahren, was mit Nina passiert ist. Und es hat noch viel länger gedauert, bis ich begriffen hatte, dass ihr Mörder kurz nach mir hier gewesen sein muss.« Er sah zu Kim auf.
»Du hättest dich melden müssen«, flüsterte Kim. »Auch noch nach den zwei Wochen hättest du zur Polizei gehen müssen und ihnen erzählen, was du weißt.«
Lukas wandte den Blick ab. »Ich war ein Feigling«, gestand er. »Ich dachte, die Polizei hätte Ninas Handy mit dem Film gefunden. Ich hatte Angst, dass sie herausfinden, wer der Typ auf dem Film ist, und dann kommen und mich abholen. Aber irgendwann war mir klar, dass das nicht mehr passieren würde. Da war ich einfach nur erleichtert. Ich redete mir ein, dass ich für die Polizei auf keinen Fall verdächtig war. Warum sonst waren sie bis jetzt noch nicht gekommen, um mich zu verhören?«
»Du hättest vielleicht bei der Suche nach dem Mörder helfen können.«
Beschämt senkte er den Blick. »Ich weiß. Aber ich war feige. Also habe ich mich stattdessen so unauffällig wie möglich gemacht.«
»All die Jahre.« Kim merkte, wie Wut in ihr hochstieg. So lange hatte sie sich den Kopf über Ninas geheimnisvollen Freund zermartert. All die Jahre, in denen sie deswegen unter Angstattacken und Panikanfällen gelitten hatte. Aber dann sah sie wieder in Lukas’ Augen und die Wut schwand. Was macht er nur mit dir?, schoss es ihr durch den Kopf.
»Als meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bestand sie darauf, zu meinem Vater zurückzukehren. Da habe ich dann die Schule geschmissen, um auf sie aufzupassen.« Er schnaubte. »Ein toller Aufpasser bin ich gewesen! Ich bin nicht nur ein Feigling, sondern auch noch ein Versager!«
»Unser erstes Treffen am Terrarium«, sagte Kim. »War das Zufall oder Absicht?«
Lukas musterte sie lange, bevor er antwortete. »Zufall. Das musst du mir glauben! Du bist mir schon am ersten Tag nach meiner Rückkehr in die Schule aufgefallen und an dem Tag dann habe ich mich endlich getraut, dich anzusprechen.«
»Und Nina?«
»Ich wusste nicht, dass du Ninas Schwester bist!« Lukas hob hilflos die Hände, als könne er diese Laune des Schicksals selbst noch nicht so recht begreifen. »Und als ich es herausgefunden hatte, was glaubst du, wie es mir da ging? Am liebsten wäre ich bis ans Ende der Welt gerannt, um so viel Abstand wie nur möglich zwischen uns zu bringen!«
»Stattdessen hast du mich ins Pascha eingeladen.«
»Ja. Weil ich ein bisschen Normalität wollte.« Jetzt lachte Lukas. Aber es klang unendlich bitter. »War ein schöner Reinfall, oder?«
»Du hast mir Angst gemacht«, gestand Kim.
Lukas nickte. »Das mache ich immer noch, oder?« Forschend sah er ihr in die Augen. »Du musst mir glauben, Kim: Erst als die Polizei mich verhört hat, habe ich erfahren, dass Ninas Handy verschwunden ist, und da wurde mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Es war nicht so, dass sie mich nie für verdächtig gehalten haben, sondern sie haben ganz einfach nichts von mir gewusst. Darum sind sie nie auf mich zugekommen. Ich habe mir all die Jahre etwas vorgemacht. Es tut mir so leid!«
Kim zögerte. Dann nickte sie. »Es ist alles …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Nina hatte ein Versteck hier im Waldschlösschen«, fuhr sie fort. »Als ich dir vorhin das Gedicht noch einmal vorgelesen habe, ist es mir wieder eingefallen.« Sie zögerte. »Das Hirschgeweih!«, murmelte sie schließlich.
Lukas nickte. »Sie hat oft Sachen dahinter versteckt. Ich habe mich auch daran erinnert. Vielleicht haben wir Glück.« Er erhob sich.
Gemeinsam gingen sie zu dem Geweih. Kim tastete die geschnitzte Holzplatte ab, auf der die ausladenden Schaufeln befestigt waren. Die Platte war ursprünglich an die Panele dahinter geschraubt gewesen, aber die untere der beiden Schrauben fehlte und so konnte man die Platte ganz leicht zur Seite schieben. Dahinter kam ein kleiner Hohlraum zum
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