Schattenfluegel
gerufen, aber du hast nicht reagiert. Frau Keller hat gerade angerufen. Vor ein paar Minuten. Sie haben endlich die DNA-Analyse von dem Haar in Maries Hand. Es stammt eindeutig von Lukas, Kim! Er hat Marie umgebracht und Nina auch. Die Spuren beweisen es, sagen sie.«
Kim rann ein Schauer den Rücken hinunter. Wovon redete er? Ihr Blick zuckte von ihm zu Lukas.
Lukas’ Augen waren weit, sein Gesicht so blass, dass der Schorf an seiner Lippe dagegen kirschrot wirkte. »Das ist eine Lüge!«, keuchte er.
Kims Blick huschte wieder zurück zu Sigurd. »Sag, dass es nicht stimmt!«, bat sie mit tonloser Stimme.
Da erschien ein sehr trauriger, mitleidiger Ausdruck auf Sigurds Gesicht. »Armes Kleines«, sagte er und in Kims Brustkorb zerbarst etwas. Es tat so weh, dass sie sich nicht mehr rühren, dass sie nicht mehr atmen konnte.
»Lukas!« Ihre Stimme brach.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Kim!« Sie sah, wie sich seine Fäuste ballten. Seine Augen verengten sich.
»Er hat Nina umgebracht«, rief Sigurd. »Und Marie. Und eben wollte er auch noch dich …«
Lukas stand da, die Fäuste neben seinen Oberschenkeln, das Gesicht so bleich, als habe er den Schlag auf den Schädel bekommen, nicht Kim.
Kim blinzelte gegen die Schatten an, die sich in ihr Blickfeld schieben wollten. Nicht schlappmachen!, ermahnte sie sich. Nicht jetzt! Reiß dich zusammen!
Da stieß Lukas auf einmal einen zornigen Schrei aus und stürzte vorwärts. Er warf sich gegen Sigurd. Die beiden prallten gegeneinander, krachten gegen das Regal, das mit einem lauten Poltern und in einer riesigen Staubwolke zu Bruch ging. Kim konnte gerade noch den Kopf einziehen. Rings um sie herum regnete es Holzsplitter, Mörtel und Sand. Sie kauerte sich zusammen, ein Brett traf sie am Rücken, andere fielen auf ihre Beine. Aber keines verletzte sie ernsthaft. Während Sigurd und Lukas irgendwo hinter ihr miteinander rangen, schaffte sie es, sich unter dem Trümmerhaufen hervorzuarbeiten.
Sie sah, wie Sigurd nach einem Stück Holz griff und zu einem wuchtigen Schlag ausholte. Doch er traf nicht Lukas, wie er es beabsichtig hatte, sondern die Glühbirne an der Decke. Mit einem lauten Knall zerbarst sie. Es wurde stockfinster in dem Kellerraum. Nur durch den Türspalt fiel ein wenig Licht herein, in dessen Schein die beiden kämpfenden Männer wie Schattenrisse wirkten.
Kim hörte Lukas aufschreien, dann keuchte jemand. Sigurd, vermutete sie. Das furchtbare Geräusch von Fäusten, die auf Leiber trafen, war zu hören. Kim musste an die Szene auf dem Schulhof denken. Dort hatte Lukas sich zusammenschlagen lassen. Hier wehrte er sich, und offenbar nicht zu knapp. Sigurd schrie, dann stöhnte er, es gab einen weiteren Hieb. Ein Körper prallte mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf.
Kim rappelte sich hoch. Ihr war immer noch schlecht, aber das Adrenalin rauschte jetzt durch ihre Adern und gab ihr Kraft. Mit beiden Händen tastete sie nach einem Stück des zerbrochenen Regals. Stattdessen bekam sie etwas Hartes, Kaltes in die Finger.
Eine der Eisenstangen.
Im Dämmerlicht glaubte sie zu sehen, wie Lukas auf Sigurd zum Sitzen kam. Sigurd ächzte, gurgelte. Würgte Lukas ihn? Kim wurde mit einem Mal ganz ruhig. Sie packte die Stange, so fest sie konnte, und hob sie über den Kopf.
Dann schlug sie zu.
Kapitel 22
Das Geräusch, mit dem die Stange auf Lukas’ Hinterkopf knallte, ließ sie aufschreien. Für einen kurzen Moment passierte gar nichts. Dann brach Lukas zusammen und landete direkt auf Sigurd.
Die Stange entglitt Kims Händen und ging scheppernd zu Boden.
Kim schwankte. Was nun? Keiner der beiden Männer rührte sich. Waren sie etwa beide …?
Da erklang ein leises Stöhnen. »Gut gemacht!«, ertönte eine Stimme, die Kim noch nie zuvor gehört hatte. Sie klang piepsig und ein wenig heiser. Doch dann räusperte sich jemand. »Gut gemacht«, sagte die Stimme noch einmal und jetzt erkannte Kim Sigurd.
Ihre Knie gaben nach und sie musste sich an die Wand lehnen.
Sigurd rappelte sich auf, kam zu ihr. Stützte sie. Sie zitterte, ein Weinkrampf schüttelte sie. Sigurd zog sie in seine Arme, hielt sie fest. »Es ist alles gut!«, sagte er. Sein weicher, tiefer Tonfall beruhigte sie. »Alles ist gut. Es ist vorbei!«
Er legte den Arm um Kims Schultern und wollte sie aus dem Kellerraum hinaus in den Gang führen. Als er die Tür öffnete und Licht hereinfiel, warf Kim einen Blick zurück. Lukas lag auf der Seite, eine Hand dicht neben seinem Gesicht,
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