Schattenfluegel
Schwester!
Verzweifelt versuchte Kim, ihre Hände zu bewegen und die Fessel zu lösen, aber alles, was sie erreichte, war, dass die raue Oberfläche des Plastiks sich in ihr Fleisch schnitt. Schmerz zuckte durch ihre Arme und Blut trat hervor. Vor Panik schwer atmend gab Kim auf. Sie sank zurück und lauschte.
In weiter Ferne war der Specht zu hören, sein Hämmern klang gedämpft durch dicke Mauern. Offenbar war sie also wirklich noch im Waldschlösschen.
Sie rutschte ein Stück hin und her, aber auch das nützte nichts. Alles, was sie damit erreichte, war, dass ihre ebenfalls gefesselten Füße gegen ein Regal stießen und ein Stapel Eisenstangen klirrend auf dem Boden aufschlug. Eine davon traf Kim am Schienbein und sandte einen dumpfen Schmerz bis hinauf ins Knie.
Sie musste an ihre Mutter denken.
Und an Sigurd. Ob die beiden sie schon vermissten?
Sie überlegte, ob sie Lärm machen sollte, um auf sich aufmerksam zu machen, aber sie traute sich nicht. Womöglich war ihr Entführer ganz in der Nähe. Ihr Kopf schmerzte. Der Knebel behinderte sie beim Atmen. Rings um sie herum war es staubig. Was, wenn ihre Nase zuschwoll? Würde sie dann ersticken? So tief, wie sie konnte, holte sie Luft. Ihr wurde schwummerig vor Augen. Sie blinzelte, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie erneut ohnmächtig wurde.
Als sie das nächste Mal erwachte, geschah es nicht mit einem Ruck, sondern langsam, als würde sie aus einem tiefen, eiskalten See auftauchen.
Sie zitterte am ganzen Leib.
Nur Stück für Stück klärte sich ihr Blick und es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass sie nicht mehr allein war.
Heftig zuckte sie zusammen.
Vor ihr kniete … Lukas! In einer Hand hielt er ein aufgeklapptes Taschenmesser, die andere lag über dem Knebel schwer auf ihrem Mund.
Während des Bruchteils einer Sekunde jagten die verschiedensten Bilder durch Kims Kopf. Nina, die von ihrem Mörder erwürgt worden war. Die Libelle. Lukas mit der blutenden Lippe. Marie und ihre schwarz angemalten Lider. In diesem Moment war sich Kim ganz sicher, dass sie jetzt sterben würde, dass sie sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte.
Dass Lukas doch Ninas Mörder war. Und auch der von Marie.
Jetzt würde er zu guter Letzt auch noch ihr eigener Mörder werden.
Angstvoll starrte sie zu ihm hinauf und ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle.
»Halt still!« Er flüsterte. Warum flüsterte er? »Ich schneide dich sonst.« Er durchtrennte erst die Fessel an ihren Handgelenken, dann die an ihren Füßen. Sie packte den Knebel, zerrte daran, aber er war so groß, dass sie ihn mit ihren zitternden Händen nicht herausbekam.
Lukas stützte sie mit einer Hand im Rücken und half ihr mit der anderen, den Knebel loszuwerden. »Still!«, raunte er. »Ich weiß nicht, ob der Typ noch hier ist.«
»Wer …?« Kim musste husten. Lukas hielt sie noch immer. Schwer lehnte sie sich gegen seinen Arm.
»Ich weiß es nicht.« Er wirkte angespannt wie vor einem Hundertmeterlauf. Mit einem Ohr lauschte er in den Gang hinaus. »Als ich vorhin das Geräusch gehört habe, bin ich nach hinten zu den Gästezimmern. Der Mistkerl hat mich eingesperrt. Ich habe fast zwanzig Minuten gebraucht, um mich zu befreien. Als ich in die Küche zurückkam, warst du weg. Ich habe ein Auto wegfahren hören, aber ich bin zu spät gekommen. Ich konnte es nicht mehr erkennen. Also habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht.« Ernst und besorgt sah er Kim in die Augen. »Scheiße, ich dachte schon, du wärst …« Er ließ den Kopf sinken und schüttelte ihn erleichtert.
Kim war schlecht. Und schwindelig. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, bemerkte sie, dass ihr Kopf an Lukas’ Schulter lag. »Komm«, flüsterte er, ging in die Hocke und machte Anstalten, sie hochzuheben.
»Ich kann allein …«, setzte sie an.
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Sofort lässt du deine Finger von ihr!«, ertönte eine wütende Stimme von der Kellertür her.
Lukas ließ Kim los und fuhr herum.
Kim versuchte, sich aufzusetzen. Es gelang ihr nur für einen Moment, doch der reichte aus, um zu erkennen, wer dort in der Tür stand. »Sigurd!«, ächzte sie. »Lukas war es n…«
Sigurd betrat den Raum. Sein Gesicht war vor lauter Wut zu einer Grimasse verzerrt. »Deine perfiden Spielchen haben hier und jetzt ein Ende!«, sagte er mit flacher, drohender Stimme. Dann sah er Kim an. »Ich habe gesehen, wie du das Haus verlassen hast. Ich habe noch nach dir
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