Schattenfreundin
wohnen noch nicht lange in Münster, und bei mir ist es beruflich manchmal etwas hektisch …«
»Manchmal?«, fragte Frau Ortrup spöttisch und putzte sich die Nase.
»Ich arbeite sehr viel«, fügte ihr Mann leise hinzu.
Charlotte und Peter Käfer warfen sich einen kurzen Blick zu. Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, um die Eltern getrennt voneinander zu befragen. Charlotte würde Katrin Ortrup übernehmen.
»Würden Sie mir wohl Leos Zimmer zeigen?«, fragte sie und stand auf. »Vielleicht finde ich dort einen Hinweis, der uns weiterhilft.«
Frau Ortrup nickte, und gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer.
Charlotte wusste, wie schwer es Frau Ortrup fallen musste, in das leere Kinderzimmer zu gehen. Ihre Schritte wirkten wackelig, sie hielt sich am Türrahmen fest, als würde ihr schwindelig werden. Mehrmals musste sie schlucken und sich räuspern, dann ging sie hinein. Langsam strich sie mit der Hand über die bunte Autotapete.
»Oh nein!«, sagte sie plötzlich. Sie stolperte zum Bett und nahm einen Teddy in die Hand. »Er hat seinen Teddy gar nicht dabei«, sagte sie, und sofort liefen ihr wieder Tränen übers Gesicht. »Ohne seinen Teddy kann er doch gar nicht einschlafen … Wir mussten schon mal fast hundert Kilometer zurückfahren, weil wir ihn vergessen hatten und Leo sich überhaupt nicht mehr beruhigen konnte. Und jetzt … jetzt ist er irgendwo … ganz allein … ohne Mama … ohne Papa … und ohne …«
Frau Ortrup drückte den Teddy an sich und weinte. Ihre Muskeln waren angespannt, sie zitterte, und auf ihrer Stirn glänzte Schweiß. Ihr Atem ging schnell, und sie griff sich immer wieder an den Bauch. Charlotte war sich sicher, dass diese Gefühle nicht gespielt waren.
»Frau Ortrup«, sagte sie. »Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Schaffen Sie das?«
Frau Ortrup nickte langsam und versuchte, tief Luft zu holen und sich zu beruhigen.
»Wie hat sich diese Tanja Ihnen gegenüber verhalten? Fühlten Sie sich von ihr belästigt oder womöglich verfolgt?«
»Belästigt?«, fragte Frau Ortrup irritiert. »Von einer Frau? Ich verstehe nicht …«
»Sagt Ihnen der Begriff Stalking etwas?«
»Ich weiß, was ein Stalker ist, ja. Prominente haben so was doch manchmal, oder? Hollywoodstars oder Musiker, die von Fans verfolgt werden. Was hat das mit Leo zu tun?«
»Es sind mitnichten nur Prominente, die von Stalkern verfolgt werden«, erklärte Charlotte. »Im Gegenteil. Die meisten Opfer sind ganz normale Menschen. Es gibt Stalker, die sind so fasziniert von dem Leben eines anderen, dass sie es unbedingt selbst leben wollen.«
»Ich verstehe Sie nicht …«
»Wenn wir das Motiv dieser Tanja herausbekommen, haben wir eine größere Chance, sie und somit auch Ihren Sohn zu finden«, sagte Charlotte. »Und wenn sie eine Stalkerin ist, wenn sie also auf Sie und Ihr Leben fixiert ist, könnte uns das neue Anhaltspunkte geben.«
»Gibt es nicht immer wieder Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch, die ein Kind entführen?«, fragte Frau Ortrup.
»Richtig. Aber in fast hundert Prozent der Fälle handelt es sich dabei um Säuglinge. Solche Frauen täuschen eine Schwangerschaft vor, stehlen dann ein Baby, in der Regel aus der Neugeborenenstation eines Krankenhauses, und geben es im Freundeskreis als eigenes aus. Diese Frauen können mit einem Dreijährigen nichts anfangen«, sagte Charlotte. »Bei einer Stalkerin sieht das ganz anders aus. Stalker sind nicht mehr in der Lage, rational zu denken. Sie sehen nur noch die Person, auf die sie sich eingeschworen haben, und versuchen alles, um dem aus ihrer Sicht idealen Bild nahe zu sein.«
Oder es zu zerstören, dachte Charlotte. Das sagte sie aber nicht. »Wie war diese Tanja zu Ihnen, Frau Ortrup?«, fragte sie stattdessen. »Hat sie Ihnen oft Komplimente gemacht, hat sie Sie häufig angerufen oder SMS geschickt, hatten Sie den Eindruck, dass sie Sie besonders toll fand?«
Frau Ortrup strengte sich sichtlich an, einen klaren Gedanken zu fassen. »Wir haben uns gut verstanden und waren immer einer Meinung, egal, ob es um Erziehungsfragen oder um Lieblingsbücher ging …« Sie überlegte. »Jetzt fällt mir auf, dass es eigentlich immer meine Standpunkte und Meinungen waren, meine Lieblingsbücher und meine Lieblingsmusik, die Tanja dann auch gut fand. Von sich selbst hat sie nie etwas preisgegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber sie war nie aufdringlich. Sie hat immer nur dann angerufen,
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