Schattenfreundin
»Liebling, hast du ein Foto von ihr? Und ihre Handynummer?«
Frau Ortrup schüttelte langsam den Kopf. »Nein … Die Nummer, ja … Wo ist mein Handy? Aber ein Foto …«
»Dann wird unser Zeichner sich mit Ihnen zusammensetzen und ein Phantombild erstellen«, sagte Käfer.
»Ja.« Plötzlich riss sie die Augen auf. »Doch, ich habe ein Foto«, sagte sie. »Wo ist mein Handy? Ich habe sie auf dem Spielplatz fotografiert. Neulich, als wir mit Ben und Leo …« Sie musste schlucken. »Ich hab sie auf jeden Fall fotografiert. Wo ist denn bloß mein Handy?«
Sie sprang auf und suchte den Wohnzimmertisch ab. Unvermittelt brach sie ab und nahm ein großes Kinderbuch in die Hand. Auf dem Cover waren Bagger und Lastwagen abgebildet. Langsam setzte sie sich wieder.
»Das mag er ganz besonders«, sagte sie mit zittriger Stimme.
Charlotte sah sie mitfühlend an. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie vernarrt ihr kleiner Bruder Stefan in Bagger gewesen war.
»Jungs und Bagger gehören einfach zusammen«, sagte sie.
Frau Ortrup lächelte schwach. » Bagger war sein erstes Wort«, sagte sie und musste schlucken. »Nach Mama .« Sie holte Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann fiel ihr Blick auf das Handy. Es hatte unter dem Buch gelegen. Sie nahm es und suchte den Fotospeicher ab.
Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Das gibts doch nicht«, murmelte sie und sah die beiden Beamten fassungslos an. »Das Foto ist nicht mehr da. Die Speicherkarte fehlt. Jemand muss die Speicherkarte rausgenommen haben.«
»Sind Sie sicher, dass Sie eine eingesetzt hatten?«, fragte Käfer.
Frau Ortrup nickte energisch. »Natürlich. Das Handy hat nur eine geringe Kapazität, deshalb habe ich immer eine Speicherkarte drin, damit ich jederzeit Fotos machen kann.«
»Haben Sie der Frau Ihr Handy mal geliehen?«, fragte Charlotte.
Frau Ortrup dachte fieberhaft nach. »Nein … Aber Leo brauchte eine neue Windel«, sagte sie aufgeregt, »da war ich abgelenkt. Mein Gott, sie muss die Speicherkarte auf dem Spielplatz rausgenommen haben!«
»Sie hat also schon frühzeitig daran gedacht, ihre Spuren zu verwischen«, sagte Charlotte. »Aber keine Sorge, unsere Zeichner sind Experten. Wir werden bestimmt ein sehr gutes Phantombild bekommen.«
Frau Ortrup schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Sie hat es damals schon geplant, sie hat es damals schon vorgehabt!«, flüsterte sie.
Herr Ortrup setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.
»Neunundneunzig Prozent der verschwundenen Kinder tauchen wieder auf«, sagte Charlotte ruhig. »Sie dürfen jetzt die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Was werden Sie unternehmen?«, fragte er.
»Wir werden jeden befragen, der uns etwas über die Tatverdächtige sagen könnte. Die Familie, in der sie gearbeitet hat, die Mitarbeiter im Kindergarten, einfach jeden. Parallel werden wir Leo zur Fahndung ausschreiben, eventuell müssen wir auch die Öffentlichkeit einschalten. Können Sie uns ein Foto von Leo geben?«, fragte Käfer.
»Natürlich.« Herr Ortrup ließ seine Frau los, holte sein Portemonnaie hervor und nahm ein Foto heraus. Es zeigte einen hellblonden Jungen, der mit strahlenden Augen in die Kamera lachte.
»Danke.« Käfer steckte das Foto ein. »Erzählen Sie uns bitte, was Leo für ein Kind ist. Ist er ein lebhafter Junge, oder ist er eher ängstlich?«
»Leo ist ein aufgeweckter, liebenswerter Kerl«, berichtete Herr Ortrup stockend. »Manchmal ist er vielleicht etwas zurückhaltend und ängstlich, aber …«
»Er ist doch nicht ängstlich!«, unterbrach Frau Ortrup ihren Mann und wischte sich die Tränen weg. »Durch den Tod seines Opas ist er in den letzten Tagen vielleicht etwas verunsichert gewesen, aber grundsätzlich ist er alles andere als ängstlich! Da merkt man mal wieder, wie wenig du ihn kennst!«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.
Charlotte beobachtete, dass Thomas Ortrup nur hilflos mit den Schultern zuckte und sich abwandte. »Was können Sie uns über diese Tanja sagen?«, fragte sie.
Frau Ortrup erzählte, wie sie Tanja kennengelernt hatte und wie gut sie sich von Anfang an mit ihr verstanden hatte.
»Ich dachte, ich hätte eine Freundin gefunden«, sagte sie. »Und dann …« Wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht.
Charlotte nickte verständnisvoll.
»Wie war die Frau Ihnen gegenüber, Herr Ortrup? Genauso freundlich und hilfsbereit?«, fragte Käfer.
»Ich habe diese Tanja nie gesehen, auch heute Morgen nicht«, sagte er. »Wir
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