Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
flehte. Er hatte gehört, wie Prasav Fejelis der Verschwörung zur Unterwanderung des Tempels beschuldigte, und wie er Fejelis und Tam selbst als Sündenböcke für die Verbrechen der Schattengeborenen anprangerte. Beim Schweigen der Sprecherin der Magier, die mit nur einer einzigen Berührung Fejelis’ Unschuld hätte bestätigen können und um Tams eigene gewusst hatte, war Tammorn klar gewesen, dass Fejelis sterben würde.
Und dann hatte er gespürt, wie die Magie des Erzmagiers wie ein scharfes Messer durch seinen Bann glitt, hatte gespürt, wie der Erzmagier seine Macht nach ihm ausstreckte, damit Tam danach greifen konnte. Er hatte die Armbrustbolzen beiseitegefegt, sich aufgebäumt, Fejelis gepackt, ihn gehoben – Orlanjis anscheinend ebenfalls – , und sie alle hier abgesetzt. Hier in den Grenzlanden, wohin Lukfer vor sechs Jahren seine Enkeltochter gebracht hatte.
Einmal mehr sollte er dankbar für Fejelis’ Zähigkeit sein. Wäre er allein gewesen, wäre er bei Sonnenuntergang bewusstlos im Farngestrüpp neben den Eisenbahngleisen gestorben.
Stattdessen lag er auf einem harten Bett und wartete darauf, von den Hohen Meister entdeckt zu werden. Oder dass Fejelis oder Jovance ihm diese Frage stellten.
Überanstrengt, von Schmerzen gepeinigt und gedankenverloren, verpasste er die erste fragende magische Berührung. Es war eine Magie, die ihm seit Kurzem vertraut und von der Aura des Feindes besudelt war, aber durch und durch nachtgeboren.
Er fühlte, dass sie ihn spürte. ›Telmaine.‹
Telmaine
Ohne Vorstellung hätte Telmaine niemals die Frau erkannt, die sie als Ishmaels Schwester begrüßte. Sie war ihm so unähnlich: zierlich, hübsch und modisch gekleidet. Aber Noellene di Studier schien ebenso phlegmatisch zu sein wie ihr Bruder; sie empfing sie – den Halbbruder des Erzherzogs, Telmaine und eine Schar von Magiern – ohne Wirbel oder Theater, wies ihre Haushälterin an, für jeden passende Räumlichkeiten zu finden, und begleitete Vladimer, Phoebe und Telmaine in eine große, gut ausgestattete Wohnung, um dort die Stranhornes zu treffen.
Ein Feuer im Kamin hielt die Wohnung so warm wie ein Krankenzimmer. Ein schlaksiger junger Mann, nicht älter als ein Jugendlicher, lag mit schwer bandagierter Schulter und Brust auf einem Sofa. Eine Frau von Anfang zwanzig saß neben ihm und überredete ihn, aus einem Glas Medizin zu trinken. Sie trug ein Umstandskleid – sie hatte den Punkt überschritten, an dem es sich schickte, in der Gesellschaft präsent zu sein – und Reitstiefel. Das Haar hatte sie sich zu einem schlichten Zopf zurückgebunden. War sie seine Ehefrau? Nein, die Ähnlichkeit war zu groß; beide hatten die gleiche breite, leicht vorspringende Stirn und die gleichen, markanten Gesichtszüge.
»Fürst Vladimer Plantageter«, sagte Noellene, »darf ich Ihnen Baronesse Laurel di Gautier und Baronet Boris Stranhorne vorstellen? Das sind meine Freunde, Fürst Vladimer Plantageter, Frau Telmaine Hearne und«, sie zögerte einen kurzen Augenblick, »Magistra Phoebe Broome.«
Telmaine hörte, wie die Baronesse scharf die Luft einsog – nicht bei der Nennung von Phoebe Broomes Namen, sondern bei ihrem eigenen.
»Bleiben Sie ruhig bequem liegen«, sagte Vladimer entschieden, als der Baronet Anstalten machte, seine Decken zurückzuschlagen. »Sie würden damit nicht mehr erreichen, als zu meinen Füßen ohnmächtig zu werden.« Sie müssen es ja wissen, dachte Telmaine vorwurfsvoll. Wäre Vladimer nicht von Schmerz und Blutverlust geschwächt gewesen, als er das erste Mal versucht hatte, den Erzherzog von der Notsituation und Ishmaels Unschuld zu überzeugen, wären Ishmael und Balthasar jetzt vielleicht bei ihnen gewesen.
Vladimer erlaubte Noellene di Studier, ihm einen Sessel hinzuschieben, und setzte sich, während er es der Baronesse überließ, seinen übrigen Begleitern Plätze zuzuweisen. Telmaine konnte nicht anders, als sich zu fragen – wenn auch nur flüchtig – , ob Noellene wusste, dass Phoebe Broome die Geliebte ihres Bruders gewesen war.
»Fürst Vladimer«, begann Laurel di Gautier und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er ergriff sie, neigte den Kopf und ließ sie nach dieser kurzen Höflichkeit wieder los. »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen. Ishmael hat oft von Ihnen gesprochen. Ich kann Ihnen erst eine Zusammenfassung anbieten und dann die Dinge nach Ihrem Belieben ausführlicher erläutern. Ishmael zog es vor, seine Berichte auf diese Weise zu erhalten
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