Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
und es war riskant, den direkten Weg zu nehmen, aber was sonst konnte sie tun angesichts der knappen Zeit, die ihr blieb? Wie es aussah, würde sie nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehren müssen – der Erzherzog hatte verkündet, den Lichtgeborenen einen Teil der Nacht zu gewähren – und hoffen, rechtzeitig einzutreffen, bevor jemand auf die Idee kam, nach ihr zu suchen, ob aus guten oder schlechten Absichten.
Ihre Atemlosigkeit zwang sie, das Tempo von einem wilden Spurt zu einem leichten Traben zu verlangsamen. Ihre Rippen schmerzten, und ihre Kehle kratzte wund. Sie hatte sich noch immer nicht ganz davon erholt, dass man sie im Springbrunnen vor dem Bolingbroke-Bahnhof beinah ertränkt hatte. Oben auf dem übervölkerten Hügel von Neustadt wärmte die Sonne die roten Mauern und weißen Dächer. Zu ihrer Linken lag nachtgeborenes Land. Sie sah das Anwesen von Herzog Kalamay und die rohe, braune Wunde, die von der Vergeltung der Magier und der Explosion der gelagerten Waffen und Munition stammte und den halben Hügel weggesprengt hatte. Das Haus selbst stand noch immer unversehrt da, tief in den Schatten geschmiegt, der Himmel darüber erfüllt vom Rauch der Nebengebäude in der Nähe des Gipfels. Bei ihrer letzten Überquerung der Brücke hatte ebenfalls Rauch in der Luft gelegen – der Rauch der brennenden Flussmark.
Sie blickte auf den Anleger unter dem Anwesen hinab; er schien unversehrt. Wenn die Gutsbewohner klug waren, würden sie später in der Nacht fortgehen. Fejelis hatte für den heutigen Tag nahezu alle Leibgardisten unter seinem Befehl auf die Straßen geschickt, um die Nachtgeborenen zu beschützen, aber Floria wäre überrascht, wenn Perrin den Befehl auf den morgigen Tag ausdehnte. Daher bezweifelte sie, dass Kalamays prächtiges Haus morgen Nacht noch stehen würde. Mycenes Güter lagen auf dem Land in nachtgeborenen Gebieten, aber Gnade dem Haushalt des Stadthauses, der ihn jetzt beherbergte, wenn die Rebellen in Erfahrung brachten, wo er sich aufhielt.
Als sie auf der anderen Seite der Brücke anlangte, näherte sich auf der Straße eine Truppe aus zwei Dutzend Wachmännern. Sie sahen aus, als hätten sie einen langen, harten Nachmittag hinter sich, staubig, erschöpft und zerschunden. Sie trugen drei Wachen aus ihren Reihen auf Bahren bei sich. »Mistress?«, rief einer, aber es war als Gruß gemeint, nicht als Herausforderung.
Nahezu ohne ihren Schritt zu verlangsamen, schnarrte sie: »Sie können mir nicht helfen, es sei denn, einer von Ihnen ist eine Hebamme.«
Sie machten ihr Platz, um sie mit müden, aber guten Wünschen passieren zu lassen. In der Truppe befand sich mehr als nur ein grauer oder bereits kahler Kopf mit erfahrenen Augen, der durchaus auf die Idee hätte kommen können, einer hübschen, rennenden Frau einige Fragen zu stellen. Sie konnte eine besondere Ansammlung von Prellungen vorweisen, war für den Prinzenhof gekleidet und für den Fall von Schwierigkeiten bewaffnet. Es wäre zu viel gehofft, ihr übereiltes Tun vor dem Bahnhof würde nicht eine der Geschichten sein, die sich die Leuten in den Kasernen heute Nacht erzählten.
Mach dir später darüber Sorgen. Sie lief den Hügel hinauf und spürte bei jedem Schritt das Stechen in ihrer Brust. Die gebündelten Lichter in ihrem Rucksack hüpften auf ihren Schultern auf und ab. Sie hatte gerade eine Hand auf Tams Tor gelegt, als ihr die Frage in den Sinn kam, welche Art von Talismanen und Schutzmechanismen er wohl rund um sein Haus errichtet hatte. Würden sie sie auch in seiner Abwesenheit als Freundin erkennen? Was wäre, falls er daran gedacht hatte, die Schutzmechanismen auf schattengeborene Magie zu verzaubern, die eine Verhexung einschloss, wie sie ihr selbst noch immer anhaftete?
Aus dem Haus erklang das Schreien eines Säuglings. Die Stimme von Tams Tochter entsprach der Stärke ihres Willens. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen. Vorsichtig schob sie sich durch das Tor. Keine unsichtbare Barriere hielt sie auf, keine plötzliche Schwäche ließ sie zusammenbrechen, und kein Donner einer Explosion schlug ihr entgegen. Sie tappte durch den Garten und versuchte, ihre Atmung so weit zu beruhigen, dass ihre Stimme normal klang. Beatrice misstraute ihr selbst in den besten Zeiten.
Sie zog an der Türglocke, und ein süßes Glockengeläut erklang, dann ein geplärrtes: »Mama, Mama, Mama, anna Tür, anna Tür.« Es folgte ein dumpfer Aufprall, als habe sich ein kleiner Körper
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