Schattengefährte
meinte er wohl damit? Natürlich waren ihre Pfeile tödlich, sie hatte hin und wieder Hasen und kleines Getier geschossen, doch sie tat es nicht gern, lieber nahm sie sich ein ungewöhnlich geformtes Blatt zum Ziel, ein Astloch in einem schrundigen Stamm, ein winziges Stückchen Himmelsblau, das zwischen dicht belaubtem Gezweig hervorblinkte.
»Schließe jetzt wieder die Augen, Alina.«
Die Zinnen der heimatlichen Burg waren schon so nah, dass sie im Mondlicht die hellen Fugen zwischen den Steinen erkennen konnte. Als sie über den stillen Hof schwebten, erblickte sie unten auf dem Pflaster den Schatten des Raben. Er war klein, nicht viel größer als der Flugschatten einer Krähe.
Dieses Mal würde sie die Augen nicht schließen. Zumindest nicht ganz, sie würde durch einen schmalen Schlitz hindurchspähen und beobachten, wie er es schaffte, durch das Fenster zu fliegen.
Hatte er ihre Absicht geahnt? Ein gewaltiges Rauschen erhob sich, so laut, dass sie wie betäubt die Hände über die Ohren legte. Schwarze Federn flatterten vor ihren Augen, wirbelten, drehten sich, schienen auf sie zuzufliegen, berührten ihr Gesicht, so dass sie angstvoll die Augen schloss.
Ihre Knie berührten sacht die Kante des Fenstersimses, dann spürte sie den Dielenboden unter ihren Füßen, und sie wagte es, zu blinzeln. Es war dämmrig in ihrem Schlafgemach, sie konnte das Bett, den Schemel, das kleine Tischlein erkennen, auch Bogen und Köcher, die an der Wand hingen. Das große Flugwesen, an das sie sich angeklammert hatte, war verschwunden, nicht eine einzige Feder war in ihren Händen geblieben, und sie spürte jetzt eine seltsame Kälte, denn vorher hatte sein Körper sie gewärmt.
»Fandur?«, flüsterte sie.
»Ich stehe hinter dir, meine kluge Herrin.«
Oh, wie gemein er war, sie auch noch klug zu nennen, hatte er sie doch schon wieder überlistet. Zornig wandte sie sich um, erblickte das Häufchen Rabenfedern auf dem Boden und holte tief Luft. Doch sie schwieg. Er wollte ihr das Geheimnis nicht enthüllen, es hatte also wenig Sinn, ärgerlich zu werden. Aber sie würde wachsam bleiben, und eines Tages würde sie diejenige sein, die ihn überlistete.
Er war schön im Licht des untergehenden Mondes. Sie sah sein Gesicht seitlich gegen das offene Fenster und bewunderte die Linien seines Profils, die leicht gewölbte Stirn, die gerade Nase, die geschwungenen Lippen, das ebenmäßige Kinn. Er war bartlos, das schwarze, glatte Haupthaar war vom raschen Flug zerzaust und ein wenig gesträubt, in den dunklen Augen spiegelte sich das Licht der glänzenden Himmelskörper.
»Die Nacht ist weit fortgeschritten«, sagte er mit weicher Stimme. »Will meine Herrin mir den Lohn für meine Mühe gewähren?«
»Den … Lohn?«
Er lächelte, und ein Zug von zärtlichem Begehren spielte um seine Lippen. Alina verspürte wieder jene Mischung aus Furcht und Sehnsucht, ein Teil von ihr wollte fliehen, sich vor ihm retten – ein anderer Teil aber suchte seine Nähe.
»Ich sehne mich danach, deine weiße Haut zu berühren, meine schöne Herrin.«
Ihr Herz schlug jetzt so rasch, dass sie glaubte, er müsse es hören. Ihre Haut? Wie meinte er das.
»Du darfst meine Hand nehmen, Rabe.«
»Ist meine Herrin so geizig mit ihrer Schönheit?«
»Also gut – meinen Arm. Bis zum Ellenbogen hinauf.«
Er lachte leise, und sie erschauerte, denn in seinem Lachen klang eine Forderung, von der er nicht abweichen würde.
»Ich will dich ganz und gar. Jede Stelle deines Körpers sollen meine Finger berühren. So lange wie du es willst – ganz so wie wir es miteinander abgemacht haben.«
Sie trat entsetzt zurück und raffte das weite Gewand um sich. Fast wäre sie dabei rücklings in die Polster gefallen, als sie mit der Ferse gegen das Bettgestell stieß.
»So etwas haben wir niemals abgemacht!«, zischte sie ihn an. »Es wäre schamlos, etwas Derartiges zu tun. Ich rate dir, nie wieder solch eine Forderung zu wagen, sonst ist es aus mit unserer Freundschaft, Rabe!«
Er hatte wohl solchen Widerstand erwartet, denn er blieb gelassen, schwieg eine Weile, wartete ab und beobachtete, wie sie sich mit dem eng um den Körper gerafftem Gewand in eine Ecke des Zimmers flüchtete.
»Was ist dabei«, fragte er dann leise und schmeichelnd. »Der Mond geht unter, und die Sterne schwinden. Es wird gleich stockdunkel im Gemach sein – niemand wird dich sehen. Auch ich nicht …«
»Nein!«
»Ich verspreche dir, die Augen dabei zu schließen.«
»Du kannst
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