Schattengefährte
Geräusch zu entkommen, dennoch wurde ihr schwindelig, und sie war froh, als sie die kühle Nachtluft an ihrem Rücken spürte.
»Klammere dich gut fest, denn ich werde rasch fliegen …«
Immerhin war es beruhigend, seine Stimme zu vernehmen, denn sie war wohl das Einzige, was von ihrem sanften, schönen Fandur geblieben war. Die harten Flügelansätze an seinem Rücken arbeiteten mit gewaltiger Anstrengung, rasch gewann ihr Fluggefährte an Höhe, und der Wind griff wirbelnd in ihr langes Haar. Sie glitten so schnell durch die Nacht, dass sie kaum den Kopf zu heben wagte, stattdessen schmiegte sie sich in sein Rabengefieder, spürte seine auf- und abschwellenden Muskeln unter ihrem Bauch und lauschte auf das Geräusch der großen Schwingen.
Er hatte Mühe, denn er musste beständig gegen den Wind anfliegen. Bald spürte sie sein rasches Atmen, ahnte, wie groß die Anstrengung für ihn war, doch er verlangsamte den Flug nicht. Beharrlich kämpfte er sich mit starken Flügelschlägen voran und ließ ihr keine Möglichkeit, sich auf seinem Rücken ein wenig aufzurichten, um nach unten zu schauen.
»Wo sind wir?«
»Wir fliegen nach Osten – dem Morgen entgegen.«
Es klang ironisch – vermutlich wäre er lieber nach Westen geflogen. Nach Osten – dann mussten sie bald den gläsernen Fluss erreichen, und es würde empfindlich kühl werden. Sie kuschelte sich an ihn, genoss die Wärme seines Körpers, und ihre Ängste verflüchtigten sich. Ihretwegen nahm er solche Mühe in Kauf, nur für sie begab er sich in Gefahr. Weshalb hatte seine Rabengestalt sie erschreckt? Es war seine zweite Natur, sie gehörte zu ihm, genau wie auch seine menschliche Gestalt, die ihr so vertraut war. Sie würde sie alle beide lieben, den Raben und den Menschen, den schwarzen Krieger und den sanften, schönen Mann. Und auch den gewitzten Burschen mit dem gesträubten Haarschopf, der so gern spottete und immer wieder versuchte, sie zu überlisten.
Trotz des unruhigen Flugs wagte sie es, sich ein wenig aufzurichten und nach vorn zu spähen. Der mondhelle Himmel hatte sich verdüstert, kaum ein Stern blinkte noch, dafür trieb ihnen der Wind winzige Eisflöckchen entgegen, die wie spitze Nadeln in die Haut stachen. Waren sie schon über dem gläsernen Fluss? Finsternis hatte die Erde unter ihnen verschluckt, es war, als glitten sie durch einen riesenhaften, dunklen Raum, in dem es weder Himmel noch Erde, sondern nur endlose Schwärze gab. Nur die eisigen Nadeln, die ihre Stirn schmerzhaft trafen, zeigten an, dass es irgendwo eine Kraft gab, die sich dem Flug des Raben mit Macht widersetzte.
Sie hörte den knisternden Frost, der sich im Gefieder ihres Flugwesens einnistete und es schwer und unbeweglich machte. Fandurs Atem ging hastig und unregelmäßig, die Schwingen schlugen langsamer, und sie spürte, dass seine Kräfte bald erschöpft sein mussten.
»Wir sind über den schneebedeckten Bergen, die hinter dem gläsernen Fluss liegen«, hörte sie ihn keuchen. »Gleich sind wir am Ziel.«
Urplötzlich setzte der harte Gegenwind aus, und der Rabe schoss wie ein Pfeil voran, tat noch einige Flügelschläge und glitt dann auf ausgebreiteten Schwingen dahin. Der Himmel war aufgerissen, durch zerfetzte schwarze Wolkenränder schimmerte fahles Mondlicht, kalt und bläulich wie dünne Milch.
»Wo sind wir?«
»Schau hinab.«
Sie stützte sich auf. Es war noch so kalt, dass sein Atemhauch ihr wie feiner Nebel entgegenwehte, auch ihr eigener Atem wurde zu weißlichem Dunst. Er kreiste jetzt mit weiten Schwingen über einer Ebene, aus der hie und da dunkle Felsbrocken emporstachen, als habe ein Riese hier mit unförmigen Bauklötzen geworfen.
»Das sieht scheußlich aus …«
Die Ebene schien vollkommen kahl, nur an wenigen Stellen erhoben sich knorrige Baumreste, die toten Wurzeln schlangengleich aus dem Boden ragend, das abgestorbene Geäst gen Himmel gestreckt. Im kalten Licht des Mondes schien alles dort unten, Boden und Felsen, auch die Bäume mit einem seltsamen Glanz überzogen, der die trostlose Landschaft noch grauer und starrer erscheinen ließ.
»Es ist alles mit durchsichtigem Eis bedeckt«, sagte Fandur, der sich während des ruhigen Kreisens wieder erholt hatte.
»Das wolltest du mir zeigen?«, meinte sie schaudernd und steckte den Kopf in sein warmes Gefieder. »Dafür hätten wir nicht so weit fliegen müssen. Es ist hässlich und traurig, ich will es nicht sehen.«
Sie hörte ihn leise lachen, und plötzlich glaubte sie
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