Schattengefährte
sie sah Mitleid in seinen Augen. Spürte er, wie einsam sie sich fühlte? Doch ihr herausfordernder Ton schien ihn zu ärgern.
»Es wäre klüger, die Fahrt auf morgen zu verschieben«, versuchte er zu handeln.
»Gewiss!«, sagte sie kurz und unfreundlich.
»Wir hätten auch länger Zeit, ich könnte dir noch andere Dinge zeigen …«
»Falls es nicht regnet, oder mein Vater mich in den Turm sperrt!«
Er fuhr sich unschlüssig mit der Hand durch das verklebte Kopfhaar. Sie frohlockte – er war schon fast gewonnen. Es fehlte nur noch ein kleiner Schubs.
»Wolltest du nicht gern meine Augen besitzen?«, fragte sie harmlos.
Jetzt wurde sein Blick weich und verlangend, er hob die Hand und strich sacht über ihre Stirn, zog mit dem Zeigefinger kaum fühlbar die geschwungene Linie ihrer Augenbrauen nach.
»Du bietest dich mir an?«
Es schwang eine große Sehnsucht in seiner leisen Stimme, sie schien tief aus seiner Brust zu kommen, von dort, wo sein Herz schlug.
»Nur, wenn du mir nicht wehtust. Was willst du mit meinen Augen anfangen?«
»Ich werde deine geschlossenen Lider küssen, Herrin.«
Im Vergleich zu dem, was er gestern von ihr verlangt hatte, erschien ihr dieses Ansinnen reichlich simpel. Wenn auch die Vorstellung wundervoll war, seine Lippen auf ihren Lidern zu spüren.
»Nun – wenn wir die Reise heute noch unternehmen, will ich dir diese Gunst gewähren. Natürlich erst dann, wenn wir wieder zurück sind …«
Er war besiegt, denn sein Verlangen nach dieser Berührung schien unermesslich groß zu sein. Entschlossen stand er auf und trat neben das Fenster, spähte einen kleinen Moment aufmerksam hinaus, dann wandte er sich zu Alina.
»Ich will nicht, dass du glaubst, ich sei feige. Ich stehe zu meinem Wort und vertraue darauf, dass du auch das deine halten wirst.«
»So machen wir es!«, triumphierte sie und sprang von ihrem Lager.
»Dreh dich um!«
»Aber …«
»Tu, was ich sage. Wir haben nicht viel Zeit«, forderte er ungeduldig.
Immer diese Geheimniskrämerei! Aber dieses Mal würde sie ihn überlisten. Während sie sich umwendete, nahm sie blitzschnell den kleinen Handspiegel von ihrem Tischlein. Einen Augenblick lang hielt sie ihn gegen die Brust gepresst, es war nicht schön von ihr, ihn so zu beschwindeln, und wenn er es bemerkte, würde er vermutlich ärgerlich werden, schlimmstenfalls sie sogar verlassen. Dennoch konnte sie ihre Neugier nicht bezwingen. Langsam hob sie den Spiegel, drehte ihn so, dass sie hinter sich sehen konnte, und sie erschrak, als das Mondlicht gleißend auf seine glatte Oberfläche fiel. Fandur stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster, seine Arme waren ausgebreitet, das dunkle, weite Obergewand wurde von der eindringenden Nachtluft sacht hin- und herbewegt. Hatte er irgendwelche Worte gemurmelt? Einen Zauberspruch? Sie vernahm nichts als ein leises Rauschen, ähnlich einem Regenschauer oder einem Windstoß, der die Baumzweige schüttelt. Schwarze Federn stiegen vom Boden auf, als habe ein Sturm sie emporgeblasen, sie schienen an Fandur emporzuwirbeln, bedeckten seinen Körper, seinen Rücken, den Nacken, große blauschwarze Schwungfedern hängten sich an seine Arme und machten sie zu gewaltigen Schwingen. Alinas Finger umkrampften den Griff des Spiegels. Würde sich sein Gesicht nun auch mit Federn bedecken? Vermutlich. Wuchs ihm ein schwarzer Rabenschnabel? Ganz sicher. Und seine Füße, wurden die zu dunklen Krallen? Zum Glück konnte sie das in ihrem Spiegel nicht sehen, sie wollte es eigentlich auch nicht wissen.
»Schließe die Augen, wende dich um und gehe voran, bis du mich spüren kannst.«
Sie hatte genug gesehen und legte den Spiegel wieder auf seinen Platz. Gehorsam schloss sie die Augen, ging mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, als sie jedoch sein Federkleid fühlte, zuckte sie zusammen und blieb stehen.
»Was ist los? Lege die Arme um mich und presse dich fest an mich«, murmelte er. »Und öffne auf keinen Fall die Augen.«
Sie tat, was er verlangte, denn sie hatte diese Reise ja gewollt. Dennoch war ihr plötzlich bange geworden, denn seine Verwandlung hatte sie mit Schrecken erfüllt. Seine gefiederte Gestalt, die sie noch gestern als aufregend empfunden hatte, erschien ihr heute angst-einflößend. Ein fremdes Tierwesen stand vor ihr, riesengroß und kraftvoll, ein rauer, grausamer Krieger, der schwarze Schnabel eine todbringende Waffe. Das Rauschen verstärkte sich, sie tauchte tief in seine Rückenfedern ein, um dem lauten
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